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Kopf des Tages

Kino mal Streaming ist Krise: Die 69. Berlinale wurde von Umbruchsde­batten bestimmt. Auch in den Filmen ging es viel ums Loslassen. Ein Überblick.

- Schlechte Nachrichte­n fürs Kino Dominik Kamalzadeh

Die britische Schauspiel­erin Charlotte Rampling wurde beim Filmfestiv­al Berlinale für ihr Lebenswerk geehrt.

Die 69. Berlinale begann mit der schlechten Nachricht, dass deutsche Kinos im Jahr 2018 einen Besuchersc­hwund von 17 Prozent hinnehmen mussten (in Österreich sind es rund zehn Prozent). Das Magazin Titanic titelte seinen Betrag daraufhin: „Wie tot ist das Kino?“Als Satire über den Kampf der „Erben Leni Riefenstah­ls“gemeint, traf einiges darin durchaus die Stimmung.

Die Debatte über den Strukturwa­ndel im Distributi­onsbereich begleitete das Festival wie ein Raunen. Die AG Kino-Gilde präsentier­te eine Unterschri­ftenliste gegen die Aufnahme der NetflixPro­duktion Elisa y Marcela in den Wettbewerb. Der Film habe in Spanien einen Kinostart und würde deshalb nicht gegen Regularien verstoßen, antwortete der scheidende Direktor Dieter Kosslick. Er sprach sich auch für eine gemeinsame Position im Umgang mit Filmen von Streamingd­iensten aus.

Davon ist man jedoch weit entfernt: Die Konkurrenz zwischen den A-Festivals scheint zu groß. Man darf gespannt sein, ob Cannes den harten Kurs gegen Netflix und Co fortsetzen wird. Für die Berlinale werden Kosslicks Nachfolger Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek nächstes Jahr neu abwägen müssen.

Wenig Unverwechs­elbares im Wettbewerb

Der Wettbewerb hatte nur wenige Filme mit einer unverwechs­elbaren Handschrif­t zu bieten. Die beiden herausrage­ndsten verbindet, dass sie um Fragen krisenhaft­er Selbstbest­immungen kreisen. Der Newcomer Tom Mercier begeistert im Film des Israelis Nadav Lapid als eine Art Alter Ego des Regisseurs: Yoav landet wie ein Alien in Paris – nackt und ohne eine Cent, aber mit festem Willen, Israel ein für allemal hinter sich zu lassen. Also kein Hebräisch mehr, nur noch Französisc­h. Pausenlos spricht der verkorkste Held Vokabeln vor sich her: Synonymes

– so heißt der Film. Er ist eine Satire auf unsere Zeit: Identität, kulturelle Prägung, Staatsgewa­lt.

All das empfindet Yoav als Belastung, kann dem aber nicht entkommen. Konfrontat­iv, mit abrupten Tonwechsel­n und reich an absurden Manövern erzählt Lapid vom vergeblich­en Versuch, sich selbst neu zu erfinden.

Der beglückend­ste Film war Angela Schanelecs Ich war zuhause,

aber: Eine Mutter und ihre Kinder, die Lehrer, einige Figuren, die sie streifen. Und die Frage, was es bedeutet, einen Lebensraum zu teilen. Was uns verbindet, was uns trennt. Ein Film, mysteriös wie das Leben, wenn man es schafft, dieses von außen zu betrachten: entfremdet, entrückt, komisch.

Tolle Arbeiten in der Forum-Sektion

Der Rückgriff aufs Archiv ist zentral für zwei Essayfilme der Forum-Sektion, die zu den besten Arbeiten des Festivals gehörten. Der deutsche Dokumentar­ist Thomas Heise begibt sich in Heimat ist

ein Raum aus Zeit auf eine Odyssee durch die eigene Familienge­schichte, die ihn nicht nur in die DDR, sondern auch ins Wien der 1930er-Jahre führt.

Die intime Intensität des Films verdankt sich seiner Briefform; die Erzählung kommt aus dem Off, während die Bilder einen Echoraum aus einer anderen Zeit anbieten. In den Briefen werden fragmentar­isch Lebenswege durch Unrechtsre­gime manifest. Von maßloser Traurigkei­t ist jene lange Passage, in der die jüdischen Verwandten aus Wien an Heises Großeltern in Berlin schreiben. Zuerst das Staunen, dann die wachsende Angst. Auf der Bildebene zieht langsam das historisch­e Dokument einer Liste von Wiener Juden durchs Bild.

Einen anderen Ansatz, um vom Persönlich­en zum Politische­n zu gelangen, wählt der Franzose Frank Beauvais in Ne croyet surtout pas que je hurle (Just Don’t Think I’ll Scream). Er berichtet von seinem persönlich­en Krisenjahr 2015, das er in einem hinterwäld­lerischen Dorf im Elsass verbrachte, während in Paris der Terror ausbrach. Die Bilder des Films stammen ausschließ­lich aus 600 Filmen, die Beauvais zu dieser Zeit rauscharti­g konsumiert hat.

Bemerkensw­erte österreich­ische Beiträge

Gleich drei österreich­ische Berlinale-Beiträge konnten durch ihre eigenständ­ige Ästhetik überzeugen. Derjenige, den man am ehesten mit Heimatbild­ern in Verbindung bringt, die Elfriede-JelinekVer­filmung Die Kinder der Toten, stammte vom Nature Theater of Oklahoma des US-Duos Kelly Copper und Pavol Liska. Die auf gespenstis­ch flickernde­m Super8-Film gedrehten Zombies wurden verdient mit dem FipresciPr­eis der Filmkritik gewürdigt.

Erde, der jüngste Dokumentar­film von Nikolaus Geyrhalter, zieht Kreise in globale Zusammenhä­nge. Er beschreibt den Planeten im Anthropozä­n, mithin die Umgestaltu­ng der Welt durch Menschenha­nd. Erde kombiniert Geyrhalter­s bildgewalt­ige Aufnahmen von vernarbten Landschaft­en mit Gesprächen von Arbeitern und Technikern, immer auf Augenhöhe. Die Schnittmen-

ge wirkt oft ironisch: Fast automatisc­h kommt man beim Reden ins Philosophi­eren. Nicht nur über die Unverantwo­rtlichkeit der Menschen, auch über die Frage, was von all dem bleibt.

Rainer Kohlberger­s It Has To Be Lived Once And Dreamed Twice

gibt schon eine Antwort. Menschlich­es Leben, auch fast jedes materielle Bild ist darin entschwund­en. Nur selten schälen sich aus den wabernden Bildern des Experiment­alfilms (in Berlin im Kurzfilmwe­ttbewerb) Gesichter heraus. Alles Leben ist in ein elektronis­ches Niemandsla­nd eingesicke­rt, zwischen Graugeries­el und Farbwellen, die akzentuier­t von Peter Kutins Sound durchs Bild schwappen. Die Off-Computerst­imme gehört einer künstliche­n Intelligen­z, die noch von Menschen erdacht wurde.

Neupositio­nierung in der Post-Kosslick-Ära

Einem Kritikerko­llegen wurde von Dieter Kosslick am Spätzlesta­nd nahe dem Berlinale-Palast ein Bärenanste­cker überreicht. Ob es solche Gimmicks weiter direkt vom Chef geben wird, ist ungewiss. Eine inhaltlich­e Neuorienti­erung der Berlinale steht an, die dem Festival vor allem wieder künstleris­ch klarere Konturen verleihen soll. Vor einigen Tagen wurde bekanntgeg­eben, dass sich Chatrian kuratorisc­he Verstärkun­g durch sein ehemaliges Locarno-Team holt, u. a. ist der Kanadier Mark Peranson dabei.

Dass der Wettbewerb einer grundsätzl­ichen Neupositio­nierung bedarf, wurde gerade im letzten Kosslick-Jahr wieder deutlich. Neben Angela Schanelec und Nadav Lapid ist Fatih Akins Der gol

dene Handschuh immerhin mit Mut zur Hässlichke­it herausgest­ochen, auch François Ozon, Denis Coté, die deutsche Newcomerin Nora Fingscheid­t fanden Fans. Dazwischen gibt es viel Spielraum für Neues. Oder für kleine Perlen wie Dan Stallits Fourteen, der lakonisch von zwei Freundinne­n in Brooklyn erzählt und dabei fast unmerklich von einer Komödie zum schwermüti­gen Drama wird.

 ??  ?? Ein verkorkste­r Held, der Israeli Yoav (Tom Mercier), landet in „Synonymes“wie ein Alien in Paris: nackt und ohne einen Cent.
Ein verkorkste­r Held, der Israeli Yoav (Tom Mercier), landet in „Synonymes“wie ein Alien in Paris: nackt und ohne einen Cent.

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