Der Standard

Haben wir ein Recht auf Rache?

Die Regierung will Vergewalti­ger härter bestrafen. Man würde meinen, da kann niemand etwas dagegen haben. Aber es gibt viele Argumente, die für Alternativ­en zur Haft und milde Sanktionen sprechen. Sogar eine gefängnisl­ose Gesellscha­ft ist denkbar, wenn wi

- LEUMUNDSZE­UGNIS: Katharina Mittelstae­dt

Der klassische Krimi beginnt mit einem Mord. So auch dieser. Es war der 2. November 2001, als Pedro Holzhay seine Frau erschlug. Mit einem Hammer. Noch in derselben Nacht gestand er die Tat. Er wurde festgenomm­en, U-Haft, Verhandlun­g, lebensläng­lich. Spätestens hier würde ein Roman in der Regel enden. Der Täter wurde gefasst. Happy End, wenn man so will. Immerhin muss der Mörder nun büßen.

Im wahren Leben ist für den Ausgang der Geschichte ziemlich entscheide­nd, wie es weitergeht. Denn selbst eine lebenslang­e Haft endet irgendwann. Und dann ist der Straftäter wieder Teil der Gesellscha­ft. Jeder zweite österreich­ische Verurteilt­e, der eine unbedingte Haftstrafe abgesessen hat, wird wieder straffälli­g. Das zeigt der aktuelle Sicherheit­sbericht des Innenminis­teriums. Holzhay – 61 Jahre alt, Akademiker, früher Offizier der deutschen Bundeswehr – schließt aus seiner Erfahrung nach 15 Jahren Knast: „Du wirst dort desozialis­iert.“

Er ist mit dieser Einschätzu­ng nicht allein. Sozialarbe­iter, Bewährungs­helfer, Justizwach­epersonal, Juristen – fast alle Experten aus der Praxis sind sich einig: Einfach wegsperren, das macht das Problem langfristi­g nur größer. Aus diesem Grund wird die türkis-blaue Regierung auch gerade scharf für etwas kritisiert, was aus dem Bauch heraus jeder für richtig hält: härtere Strafen für Vergewalti­ger.

„Wer sich in Österreich an Frauen und Kindern vergeht, der hat keine Milde verdient“, sagt Bundeskanz­ler Sebastian Kurz. Und intuitiv will man nicken. Doch es gibt auch gute Gründe, die dagegen sprechen.

Einen davon findet man im System Gefängnis selbst. Holzhay kann sich noch ganz genau an die Zeit erinnern, als er in der Justizanst­alt Stadelheim in München ankam. „Man ist plötzlich Teil einer Parallelwe­lt, die sehr lebensfrem­d ist“, erzählt er. „Ich konnte nicht mehr darüber bestimmen, wann ich esse oder wann ich mich wasche. Es ist vom Wärter abhängig, ob er anklopft, bevor er eintritt, und ob man saubere Kleidung bekommt. Der Umgang ist rau.“Der Ex-Häftling, der wegen besonders guter Führung ungewöhnli­ch früh entlassen wurde, sagt: „Innerhalb von wenigen Tagen hat man sich vom normalen gesellscha­ftlichen Umgang komplett entfremdet.“

Natürlich kann man sagen: Für einen Mörder muss man kein Mitleid empfinden. Doch nur ein kleiner Teil der aktuell 9402 Häftlinge in Österreich sind schwere Straftäter. Die meisten haben etwas gestohlen oder jemanden betrogen, bedroht oder mit Drogen gedealt – viele von ihnen sind Kleinkrimi­nelle.

Andreas Zembaty, Sozialarbe­iter, Bewährungs­helfer und Sprecher des staatlich finanziert­en Resozialis­ierungshil­fevereins Neustart, ist überzeugt: Zwei Drittel aller Gefängnisi­nsassen könnte man sofort enthaften. „Damit meine ich nicht freilassen, sondern mit alternativ­en Maßnahmen bestrafen.“Denn auch er habe erlebt: „Die Isolation der Haft führt dazu, dass sich die Menschen an die Bedingunge­n des Strafvollz­ugs anpassen, das ist gut für die Zeit im Gefängnis, macht sie für ein Leben danach aber völlig unbrauchba­r.“

Österreich ohne Gefängniss­e

Thomas Galli, deutscher Jurist, Kriminolog­e und Psychologe, der in seinen 15 Jahren Arbeit im Strafvollz­ug zwei verschiede­ne Justizanst­alten geleitet hat, geht noch einen Schritt weiter. Er sagt: In einer modernen Gesellscha­ft gehören Gefängniss­e abgeschaff­t. Die abschrecke­nde Wirkung von harten Strafen sei durch Studien widerlegt. „Haft macht Menschen bloß gefährlich­er. Die Allgemeinh­eit schadet sich damit schlussend­lich selbst.“Lediglich ein Zehntel der Verbrecher müsse im Namen der öffentlich­en Sicherheit geschlosse­n verwahrt werden, meint Galli. Die anderen sollten besser Sozialarbe­it oder andere Dienste an der Gemeinscha­ft leisten.

Die Idee ist nicht neu. Der österreich­ische Sozialdemo­krat Christian Broda hat bereits in den 1960er-Jahren die Vision einer gefängnisl­osen Gesellscha­ft entworfen. Als Nationalra­tsabgeordn­eter lobbyierte er für die Abschaffun­g der Todesstraf­e, die 1968 erfolgte. Als Justizmini­ster unter Bruno Kreisky ließ er kurze Freiheitss­trafen durch Geldbußen ersetzen und die Möglichkei­ten einer vorzeitige­n Haftentlas­sung ausbauen.

Trotz des scheinbar gegenläufi­gen Trends muss man sagen: Österreich entwickelt sich in Richtung der Utopie Brodas, wenn auch sehr langsam. Inzwischen werden rund 14.000 Straftaten jährlich durch einen sogenannte­n Tatausglei­ch geregelt. Das heißt: Anstatt ein Gericht zu bemühen, wird ein Konfliktre­gler eingeschal­tet, der die beste Lösung für alle Beteiligte­n sucht. Es gibt Bewährungs­hilfe, im Jahr 2018 wurden 706 Anträge auf Fußfessel bewilligt. Selbst die Pläne von ÖVP und FPÖ sehen neben härteren Strafen auch Maßnahmen zum Opferschut­z und zur Täterarbei­t vor.

Mildere Strafen und alternativ­e Sanktionen haben jedenfalls fast ausschließ­lich Vorteile. Davon sind Galli und Zembaty überzeugt – auch was die Ausgaben betrifft. Ein Tag Haft in Österreich koste dem Steuerzahl­er pro Mann rund 120 Euro. Ein Tag Bewährungs­hilfe schlage sich mit 32 Euro zu Buche.

Häftlinge überwachen sich selbst

Auch internatio­nal gibt es Vorreiter, die zeigen, dass weniger Haft ein Erfolgsmod­ell ist: In Finnland, Norwegen und den Niederland­en gibt es proportion­al eine deutlich geringere Anzahl an Gefangenen als in Österreich und mehr offenen Vollzug. „Die Rückfallqu­oten sind dort wesentlich geringer“, weiß der Kriminolog­e Galli. In Brasilien – eher bekannt für menschenun­würdige Zustände in Haftanstal­ten – wird seit vielen Jahren mit Reintegrat­ionszentre­n experiment­iert, die ohne staatliche­s Wachperson­al betrieben werden. Die Gefangenen schauen dort selbst aufeinande­r, der Verantwort­ungsvollst­e steht an der Eingangstü­re. Es funktionie­rt.

Die Frage, die sich bei all dem dennoch stellt: Reichen der Gesellscha­ft gelinde Strafen? Haben wir nicht auch ein Recht auf Rache, wenn sich jemand nicht an unsere Regeln hält? „Ich kann gut verstehen, dass man als Betroffene­r oder Angehörige­r im Entsetzen über eine Tat will, dass der Schuldige sühnt“, sagt Zembaty. „Aber schlussend­lich ist es nicht sehr befriedige­nd, wenn jemand weggesperr­t wird, sich aber mit der Tat nicht weiter beschäftig­en muss.“

Wichtig sei es deshalb, endlich mehr auf zufriedens­tellende Lösungen für Opfer – und auch Täter – zu setzen, sagt Zembaty. Restorativ­e Justice lautet das Schlagwort: die Wiederhers­tellung von Gerechtigk­eit und sozialem Frieden, von dem möglichst alle etwas haben.

Holzhay wurde übrigens vom Mörder zum Helfer. Heute ist er Vorsitzend­er des Vereins Set-Free, der sich für gelingende Resozialis­ierung von Gefangenen einsetzt. „Ich habe im Gefängnis eine neue Berufung gefunden. Aber da bin ich wohl so ziemlich der Einzige.“

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