Wie die Verzahnung von Kirche und Staat Missbrauch fördert
Historiker Horst Schreiber sagt, dass nur das Aufbrechen alter Strukturen künftige Heimskandale verhindern kann
wurden. Ein dritter Fall datiert auf eine frühere Zeit zurück.
Was den Kindern damals angetan wurde, kann nicht mit den aktuellen Vorwürfen verglichen werden. Doch es sind dieselben Strukturen, die solche Übergriffe begünstigen. Davon will man seitens des Ordens nichts hören. Dass Mils für heutige Verhältnisse „unzumutbar“sei, bestätigt aber auch Erich Wahl von der gesetzlichen Bewohnervertretung, die den Auftrag hat, Heime regelmäßig hinsichtlich freiheitsbeschränkender Maßnahmen zu prüfen. Zwar sei ein Bemühen des Personals spürbar, doch die Struktur der Großanstalt widerspreche den Grundlagen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Widerstand gegen Kontrollen
Auch Volksanwalt Günther Kräuter, der ebenfalls für die Kontrolle solcher Heime zuständig ist, kennt Mils: „Schon im Jahr 2017 habe ich das Land Tirol dringend ersucht, den Umzug der Bewohner in kleinere Wohneinheiten zu forcieren.“Denn in derartigen Großeinrichtungen sei die Gefahr struktureller Gewalt potenziell höher. Doch diese Dislozierung geht nur schleppend voran.
Denn für die Betreiber bedeuten große Heime weniger Personalaufwand und damit Kostenersparnis. Die jüngste Forderung der Wirtschaftskammer, die Prüfungsbereiche der Volksanwaltschaft in Heimen zu „verschlanken“, ist daher auch vor diesem Hintergrund zu betrachten. Hinzu kommen undurchsichtige Strukturen. So konnte das Land Tirol bis Redaktionsschluss keine Auskunft darüber geben, wie viel Steuergeld man dem Orden jährlich für seine Dienste überweist.
Dass es im Fall Mils letztlich ums Geld geht, bewies die Reaktion der Generaloberin auf ein Versöhnungsangebot. Im Jahr 2012 lud der damalige Tiroler Bischof Manfred Scheuer die Aufdeckerin von 1980, Brigitte Wanker, zu einem versöhnenden Gespräch mit der Ordensfrau. Weil er ehrlich bemüht war, sagte Wanker zu. Doch beim Termin blieb der Stuhl der Generaloberin leer. Kätzler weigerte sich, mit Wanker an einem Tisch zu sitzen. Warum sie das Angebot ausschlug, wird auf Nachfrage nicht kommentiert.
Um dieses Kapitel endlich für sich abzuschließen, wandte sich Wanker trotzdem noch einmal in einem Brief an die Ordensleiterin und bat um eine Aussprache. Die schriftliche Antwort der Generaloberin war eindeutig: Mit einem Gespräch sei das, was Wanker dem Orden finanziell und hinsichtlich seines Rufes angetan habe, nicht wieder gutzumachen. Daher lehne sie ein Treffen ab.
Dass ausgerechnet das Netzwerk St. Josef in Mils neuerlich für Schlagzeilen sorgt, verwundert den Zeithistoriker Horst Schreiber nicht: „Diese Einrichtung steht in jener Tradition der pflegerischen Versorgung, in der Menschen mit Behinderung als krank gelten.“Die Heimstruktur schaffe einen „Schonraum“, der sie letztlich von allem abschotte und dadurch abhängig sowie unmündig mache.
Schreiber hat vor rund zehn Jahren mit seinen Forschungen die dunkle Vergangenheit Tiroler Fürsorgeheime aufgearbeitet und kennt die Strukturen, die solche Verbrechen möglich gemacht haben, gut. Und er sieht Parallelen zu den aktuellen Vorwürfen, die Mils betreffen.
So habe sich zwar die Qualität der Betreuung in den Einrichtungen deutlich verändert, doch die Struktur eines Großheimes sei dieselbe geblieben: „Es ist ein starrer Tagesablauf, der die Bedürfnisse von Menschen mit sehr vielen Vorschriften reglementiert.“Die Ähnlichkeit zur Organisation eines Klosters sei nicht zufällig, sagt Schreiber und verweist auf die oft kirchlichen Träger im Hintergrund.
Damit solche Strukturen funktionieren, müssen die Bewohner an sie angepasst werden. Das bedeute wenig Individualität und führe zu Entpersönlichung. „Letztlich lassen sich Menschen nur mit Gewalt in ein solches Korsett zwängen“, sagt Schreiber.
In der Vergangenheit wurde dies noch mit ungehemmter physischer Gewalt erreicht, wie die Forschungen des Zeithistorikers ergeben haben. Heute sind die Methoden weniger brachial. Doch das aktuelle Beispiel in Tirol zeigt, dass Verbesserungen nicht ausreichen. Es brauche grundsätzliches Umdenken.
Großheime, wie es sie etwa auch in Kainbach in der Steiermark noch gibt, sind für Schreiber „Überbleibsel eines längst überkommenen Zugangs zum Umgang mit Menschen mit Behinderung“. Dass sie sich dennoch so lange halten konnten – die Diskussion um zeitgemäße Unterbringungsformen fand schon in den 1970ern statt –, liege im Charakter der Einrichtung selbst begründet: „Dieses in sich geschlossene System nimmt jede Veränderung und damit auch Reform von außen als Bedrohung wahr.“
Spätestens seit 1980, als die Missstände in Mils erstmals publik wurden, hätte man wissen müssen, woran „dieses Verwahrsystem krankt“, kritisiert Schreiber. Trotzdem habe man sich gegen einen Bruch mit den alten Strukturen entschieden. Schreiber: „Nicht zuletzt aus Kostengründen, weil diese Heimstruktur günstiger für die Betreiber ist.“
Dass sich der Orden der Barmherzigen Schwestern auch 2010 weigerte, diese Kritik anzunehmen, wirke nun bis in die Gegenwart. Denn: „So leben die Gespenster der Vergangenheit weiter. “
Warum die Politik hier nicht schon längst eingegriffen hat, liegt für den Tiroler Historiker auf der Hand: Die bis zu den Habsburgern zurückreichende enge Verzahnung von Kirche und Staat sei eine Ursache. Diese wurde mit der Schaffung des Konkordats im Austrofaschismus in Vertragsform gegossen und bestimmt so bis heute das Verhältnis beider Institutionen zueinander.
Die politisch Verantwortlichen sieht Schreiber in der Pflicht, neben der reinen Kritik an den herrschenden Zuständen auch eigene, alternative Lösungen anzubieten – und den direkten Konflikt mit mächtigen Orden auch auszuhalten und durchzustehen.
Letztlich sei aber auch die Gesellschaft gefragt, sich ihrer bislang vernachlässigten Verantwortung bewusst zu werden, fordert Schreiber. Nur so könne es gelingen, behindertenpolitische Themen, für die es nach wie vor kaum eine Lobby gebe, mit Nachdruck in Angriff zu nehmen.