Die lange Tradition des Wiener Boulevards
Geschäfte machen mit publizistischer Macht, tatsächlicher oder nur behaupteter: Das hat auch und vielleicht besonders in Österreich Tradition. Der Klassiker: „Schwerverleger“schimpfte Schriftsteller und Kulturkritiker Karl Kraus den Boulevardverleger Imre Békessy und sein „Revolverblatt“Die Stunde. Das erpresserische Geschäftsmodell: (Inseraten-)Geld – oder unschöne Berichterstattung. „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“, forderte Kraus. 1926 floh Békessy vor einem Strafverfahren nach Paris. Krone- Brachialkolumnist Michael Jeannée übernahm Kraus’ Ruf (fast korrekt zitiert) 2017, um Österreich- Verleger Wolfgang Fellner zu beschimpfen. Das Handelsgericht Wien untersagte Jeannée diesen Satz und einige mehr. Österreich wiederum darf der Krone nicht mehr nachsagen, sie beschäftige „den übelsten Kolumnistenschuft“.
Wenig zimperlich geht der Boulevard mit mutmaßlichen Opfern und Tätern um, mit Privatsphäre, Persönlichkeitsschutz und Unschuldsvermutung – und gern auch mit der Wahrheit in Bildmontagen. Der Presserat verurteilte vor kurzem krone.at, weil sie den grünen EU-Abgeordneten Michel Reimon ohne Hinweis auf die Fotomontage zu vermummten Demonstranten stellte. Spektakuläre Fälle: Die „Mordschwestern“von Lainz und was ihnen die Krone auf der Titelseite mit Bild nachsagte. Ein Österreich- Reporter rief während einer Geiselnahme in einer Bawag-Filiale den Täter an (und zeigte ihn nach der Festnahme mit nasser Hose). Heute brachte ein Kussfoto von Natascha Kampusch aus einem Club. ORF-Moderator Roman Rafreider sprach das Wiener Straflandesgericht gerade (nicht rechtskräftig) eine fünfstellige Entschädigung zu, weil Fellners Oe24 Chat-Nachrichten an seine ehemalige Lebensgefährtin veröffentlicht hatte.
Eine Wiener Spezialität: Öffentliche Stellen werben für dreistellige Millionenbeträge pro Jahr – die höchsten Etats gehen meist an Krone, Heute, Österreich/ Oe24. Auch an politische Investments können sich publizistische Erwartungen knüpfen. (fid)