Gewinnen wir den Kampf gegen Armut wirklich?
Ökonomen rund um Max Roser aus Oxford argumentieren, dass die Welt ein immer besserer Ort wird, weil die globale Armut rasant sinkt. Seine Darstellung dieser Entwicklung stößt auf Widerspruch. Einblicke in eine lehrreiche Debatte.
Auslöser des Disputes war eine Nachricht des Multimilliardärs und Philantropen Bill Gates via Twitter. Kurz vor Beginn des Weltwirtschaftsforums in Davos schickte der Microsoft-Gründer eine Infografik an seine 46 Millionen Follower aus. In dem Tweet waren sechs Charts mit einer einzigen Aussage zu sehen: Die Welt wird immer besser.
Auf der Grafik war etwa abgebildet, wie die globale Kindersterblichkeit gesunken ist und immer mehr Menschen lesen können. Eine der Abbildungen zeigte, dass angeblich im Jahr 1820 noch 94 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut lebten, während es heute noch zehn Prozent sind. Und genau an dieser Darstellung entzündete sich ein Streit, der bis heute andauert.
Der Erste der einhakte, war der Buchautor und Anthropologe Jason Hickel, der sich über die vergangenen Monate zu einer Art Shootingstar der Globalisierungskritiker entwickelt hat. Bill Gates präsentiert „eine kraftvolle“Erzählung, schrieb Hickel, „nur ist sie leider völlig falsch“. Gates hat seine Grafiken einem Forschungs- projekt rund um den Oxford-Ökonomen Max Roser entnommen. Das Projekt beschäftigt sich mit der globalen Armutsentwicklung.
In der erwähnten Darstellung der beiden gilt jeder Mensch als arm, der von weniger als 1,90 USDollar am Tag auskommen muss. Die Werte sind kaufkraftbereinigt, dass Waren und Dienstleistungen überall unterschiedlich teuer sind, ist also berücksichtigt.
Die Weltbank hat erst in den 1980er-Jahren damit begonnen, Daten über Einkommen systematisch zu erfassen. Bis zu diesem Zeitpunkt beruhen die Zahlen auf groben Berechnungen einzelner Ökonomen. Eine Armutsstatistik zu verwenden, die bis in das Jahr 1820 zurückgeht, sei also völlig unseriös. Ebenso schwer wiegt sein zweiter Einwurf: Hickel argumentiert, dass eine Armutsgrenze von 1,90 Dollar viel zu niedrig ist.
Dieses Argument hat er bereits in seinem 2018 erschienen Buch (Die Tyrannei des Wachstums) ausgeführt. Die Weltbank und die internationale Staatengemeinschaft haben extreme Armut vor etwa vier Jahren mit einer Schwelle von 1,90 US-Dollar definiert. Hickel argumentiert, dass der Grenzwert bewusst niedrig angesetzt wurde, weil die Weltbank gute PR braucht. Es ist unbestritten, dass die Zahl der Menschen steigt, die mehr zur Verfügung haben als zwei US-Dollar, so Hickel. Nur sei das irrelevant. Um seine Grundbedürfnisse in puncto Ernährung, Wohnung, Hygiene und Gesundheit decken zu können seien pro Tag mindestens fünf bis acht Dollar nötig. Und selbst mit diesem Geld, sei eine Teilhabe am sozialen Leben nicht möglich.
Bevor die Eroberer kamen
Schließlich sagt Hickel, dass im vorkolonialen Zeitalter Geld keine so bedeutende Rolle gespielt hat. Die Subsistenzwirtschaft war zum Beispiel in Afrika verbreitet, Menschen haben sich mit Nahrung selbst versorgt, sie hatten vielfach kostenlos Zugang zu Land und Vieh.
Mit der europäischen Kolonialisierung im 19. Jahrhundert hat sich das geändert: Die Eroberer haben die Ressourcen gewaltsam an sich gerissen und das Wirtschaftssystem umgestellt. Die Folge war, dass viele Menschen für Dinge be- zahlen mussten, die vorher kostenlos waren. Das schlug sich auch in Statistiken nieder, die Volkswirtschaften begannen im Zuge des 19 Jahrhunderts auch in Afrika stärker zu wachsen. Doch dieses Wachstum war nicht gleichbedeutend damit, dass sich die Lebensumstände der Menschen verbessert hätten, so Hickel.
Diese Argumentation stieß auf heftigen Widerspruch. Der Psychologe Steven Pinker, der gerade einen Bestseller (Aufklärung Jetzt) darüber geschrieben hat, warum die Welt wieder mehr auf Fakten vertrauen sollte und alles sehr wohl besser wird, schaltete sich ebenso ein wie Max Roser.
Das Argument der beiden: Die globale Armut geht auch dann unbestreitbar zurück, wenn man lediglich auf die Daten der Weltbank aus den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten zurückgreift. Und: Ein positives Bild gibt es auch, wenn die Armutsschwelle auf einem höheren Wert festgelegt wird. Wie sehen etwa die Zahlen aus, wenn als arm nur gilt, wer weniger als 7,40 Dollar am Tag zur Verfügung hat? Dann lebten 1980 laut Weltbank 70 Prozent der Weltbevölkerung in Armut. Heute dagegen sind es nur 58,1 Prozent. Steven Pinker argumentiert zudem, dass Hickel die Vergangenheit verklärt und die Lebensbedingungen im vorkolonialen Zeitalter zu rosig darstellt.
An dieser Stelle schaltete sich der aktuell wichtigste Ungleichheitsforscher Branko Milanovic ein: Es sei unbestritten, dass die Welt Erfolge bei der Armutsreduktion feiern kann. Alle von Hickel erhobenen Einwände haben aber eine Berechtigung. Sein Argument: Eine Grafik allein sage nichts aus, sondern bedürfe Interpretation. Armutsstatistiken auf Basis von Daten aus dem 19. Jahrhundert zu erstellen, hält auch Milanovic nicht für seriös. Grafiken alleine sagen nicht viel aus, sie müssen in einen Kontext gerückt werden.
An dieser Stelle konnten alle zustimmen: Hickel bestritt in einer weiteren Antwort nicht, dass es Erfolge gibt, etwa weil Lebenserwartung gestiegen und die Kindersterblichkeit gesunken ist. Nur dürfe nicht verschwiegen werden, dass es auch viele Schattenseiten dieser Entwicklung gibt.