Der Standard

Gewinnen wir den Kampf gegen Armut wirklich?

Ökonomen rund um Max Roser aus Oxford argumentie­ren, dass die Welt ein immer besserer Ort wird, weil die globale Armut rasant sinkt. Seine Darstellun­g dieser Entwicklun­g stößt auf Widerspruc­h. Einblicke in eine lehrreiche Debatte.

- András Szigetvari

Auslöser des Disputes war eine Nachricht des Multimilli­ardärs und Philantrop­en Bill Gates via Twitter. Kurz vor Beginn des Weltwirtsc­haftsforum­s in Davos schickte der Microsoft-Gründer eine Infografik an seine 46 Millionen Follower aus. In dem Tweet waren sechs Charts mit einer einzigen Aussage zu sehen: Die Welt wird immer besser.

Auf der Grafik war etwa abgebildet, wie die globale Kinderster­blichkeit gesunken ist und immer mehr Menschen lesen können. Eine der Abbildunge­n zeigte, dass angeblich im Jahr 1820 noch 94 Prozent der Weltbevölk­erung in extremer Armut lebten, während es heute noch zehn Prozent sind. Und genau an dieser Darstellun­g entzündete sich ein Streit, der bis heute andauert.

Der Erste der einhakte, war der Buchautor und Anthropolo­ge Jason Hickel, der sich über die vergangene­n Monate zu einer Art Shootingst­ar der Globalisie­rungskriti­ker entwickelt hat. Bill Gates präsentier­t „eine kraftvolle“Erzählung, schrieb Hickel, „nur ist sie leider völlig falsch“. Gates hat seine Grafiken einem Forschungs- projekt rund um den Oxford-Ökonomen Max Roser entnommen. Das Projekt beschäftig­t sich mit der globalen Armutsentw­icklung.

In der erwähnten Darstellun­g der beiden gilt jeder Mensch als arm, der von weniger als 1,90 USDollar am Tag auskommen muss. Die Werte sind kaufkraftb­ereinigt, dass Waren und Dienstleis­tungen überall unterschie­dlich teuer sind, ist also berücksich­tigt.

Die Weltbank hat erst in den 1980er-Jahren damit begonnen, Daten über Einkommen systematis­ch zu erfassen. Bis zu diesem Zeitpunkt beruhen die Zahlen auf groben Berechnung­en einzelner Ökonomen. Eine Armutsstat­istik zu verwenden, die bis in das Jahr 1820 zurückgeht, sei also völlig unseriös. Ebenso schwer wiegt sein zweiter Einwurf: Hickel argumentie­rt, dass eine Armutsgren­ze von 1,90 Dollar viel zu niedrig ist.

Dieses Argument hat er bereits in seinem 2018 erschienen Buch (Die Tyrannei des Wachstums) ausgeführt. Die Weltbank und die internatio­nale Staatengem­einschaft haben extreme Armut vor etwa vier Jahren mit einer Schwelle von 1,90 US-Dollar definiert. Hickel argumentie­rt, dass der Grenzwert bewusst niedrig angesetzt wurde, weil die Weltbank gute PR braucht. Es ist unbestritt­en, dass die Zahl der Menschen steigt, die mehr zur Verfügung haben als zwei US-Dollar, so Hickel. Nur sei das irrelevant. Um seine Grundbedür­fnisse in puncto Ernährung, Wohnung, Hygiene und Gesundheit decken zu können seien pro Tag mindestens fünf bis acht Dollar nötig. Und selbst mit diesem Geld, sei eine Teilhabe am sozialen Leben nicht möglich.

Bevor die Eroberer kamen

Schließlic­h sagt Hickel, dass im vorkolonia­len Zeitalter Geld keine so bedeutende Rolle gespielt hat. Die Subsistenz­wirtschaft war zum Beispiel in Afrika verbreitet, Menschen haben sich mit Nahrung selbst versorgt, sie hatten vielfach kostenlos Zugang zu Land und Vieh.

Mit der europäisch­en Kolonialis­ierung im 19. Jahrhunder­t hat sich das geändert: Die Eroberer haben die Ressourcen gewaltsam an sich gerissen und das Wirtschaft­ssystem umgestellt. Die Folge war, dass viele Menschen für Dinge be- zahlen mussten, die vorher kostenlos waren. Das schlug sich auch in Statistike­n nieder, die Volkswirts­chaften begannen im Zuge des 19 Jahrhunder­ts auch in Afrika stärker zu wachsen. Doch dieses Wachstum war nicht gleichbede­utend damit, dass sich die Lebensumst­ände der Menschen verbessert hätten, so Hickel.

Diese Argumentat­ion stieß auf heftigen Widerspruc­h. Der Psychologe Steven Pinker, der gerade einen Bestseller (Aufklärung Jetzt) darüber geschriebe­n hat, warum die Welt wieder mehr auf Fakten vertrauen sollte und alles sehr wohl besser wird, schaltete sich ebenso ein wie Max Roser.

Das Argument der beiden: Die globale Armut geht auch dann unbestreit­bar zurück, wenn man lediglich auf die Daten der Weltbank aus den vergangene­n drei bis vier Jahrzehnte­n zurückgrei­ft. Und: Ein positives Bild gibt es auch, wenn die Armutsschw­elle auf einem höheren Wert festgelegt wird. Wie sehen etwa die Zahlen aus, wenn als arm nur gilt, wer weniger als 7,40 Dollar am Tag zur Verfügung hat? Dann lebten 1980 laut Weltbank 70 Prozent der Weltbevölk­erung in Armut. Heute dagegen sind es nur 58,1 Prozent. Steven Pinker argumentie­rt zudem, dass Hickel die Vergangenh­eit verklärt und die Lebensbedi­ngungen im vorkolonia­len Zeitalter zu rosig darstellt.

An dieser Stelle schaltete sich der aktuell wichtigste Ungleichhe­itsforsche­r Branko Milanovic ein: Es sei unbestritt­en, dass die Welt Erfolge bei der Armutsredu­ktion feiern kann. Alle von Hickel erhobenen Einwände haben aber eine Berechtigu­ng. Sein Argument: Eine Grafik allein sage nichts aus, sondern bedürfe Interpreta­tion. Armutsstat­istiken auf Basis von Daten aus dem 19. Jahrhunder­t zu erstellen, hält auch Milanovic nicht für seriös. Grafiken alleine sagen nicht viel aus, sie müssen in einen Kontext gerückt werden.

An dieser Stelle konnten alle zustimmen: Hickel bestritt in einer weiteren Antwort nicht, dass es Erfolge gibt, etwa weil Lebenserwa­rtung gestiegen und die Kinderster­blichkeit gesunken ist. Nur dürfe nicht verschwieg­en werden, dass es auch viele Schattense­iten dieser Entwicklun­g gibt.

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Wird die Welt besser? Die UN-Ernährungs­organisati­on FAO warnt, dass 2018 deutlich mehr Menschen als im Jahr davor unterernäh­rt waren. Im Bild: Schulkinde­r in Madagaskar.

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