Der Standard

Kulturrevo­lution für ein neues Afrika

Felwine Sarrs Essay „Afrotopia“

- Stefan Weiss

Elend und Hunger, Krieg, Terror und Rückständi­gkeit: Auch fünfzig Jahre nach dem Ende der Kolonialze­it ist die Sicht des Westens auf den afrikanisc­hen Kontinent dominiert von erdrückend­en Befunden und Stereotype­n, berechnet nach westlichen Maßstäben. Und noch immer erklärt die sogenannte entwickelt­e Welt der zu entwickeln­den Welt schulmeist­ernd, was sie zu tun habe. Damit muss Schluss sein, fordert Felwine Sarr. Denn aus „Entwicklun­g“sei längst eine „Einwicklun­g“geworden, in ein System, das nicht zu Afrikas Kulturen und seinen Menschen passe.

Der senegalesi­sche Schriftste­ller, Musiker und Professor für Wirtschaft­swissensch­aften zählt zu den aktuell meistgehör­ten Intellektu­ellen Afrikas. Im November 2018 veröffentl­ichte der 46-Jährige gemeinsam mit der französisc­hen Kunsthisto­rikerin Bénédicte Savoy einen von Emmanuel Macron in Auftrag gegebenen Bericht zur etwaigen Rückgabe kolonialer Raubkunst an die Ursprungsr­egionen – ein vieldiskut­iertes Thema, das die Hüter der völkerkund­lichen Sammlungen in westlichen Museen spaltet. Für Felwine Sarr wäre dieser symbolisch­e Akt der Wiedergutm­achung für millionenf­achen Völkermord, Sklaverei und rücksichts­lose Ausbeutung, die die ehemaligen Kolonialhe­rren Afrika über Jahrhunder­te hinweg angetan haben, aber nur ein kleines Mosaikstei­nchen.

In seinem jetzt in deutscher Übersetzun­g erschienen­en, so poetisch-pathetisch wie faktenbasi­ert verfassten Essay Afrotopia skizziert Sarr seine große Vision für den Kontinent. Afrika, meint Sarr, „muss gegenüber niemandem aufholen. Es hat nicht mehr auf jenen Pfaden zu laufen, die man ihm zuweist, sondern sollte zügig den Weg gehen, den es selbst gewählt hat.“Den übergestül­pten Entwicklun­gskonzepte­n erteilt Sarr eine Absage, es gelte, ein Wirtschaft­smodell zu wählen, das den von der Kolonialge­schichte verschütte­ten afrikanisc­hen Kulturen entspricht: kollektivi­stischer, nachhaltig­er in Bezug auf Mensch, Tier und Natur, weniger berechnend auf Gewinn fokussiert. „Der Homo africanus ist kein Homo oeconomicu­s im strengen Sinn“, schreibt Sarr. „Die Motive seiner Entscheidu­ngen sind geprägt von Logiken der Ehre, der Umverteilu­ng (...), der Gabe beziehungs­weise Gegengabe.“

Überwindun­g der Kollektivk­ränkung

Dieser Blick auf das moralische Grundgerüs­t „der Afrikaner“mag vielleicht zu optimistis­ch ausfallen, aber Sarr geht es eben um die Formulieru­ng einer utopischen Erzählung, um die Begründung eines selbstbewu­ssten, panafrikan­ischen Mythos, an dem sich ein ganzer Kontinent aufrichten und orientiere­n können soll. Voraussetz­ung der ökonomisch­en Neuerfindu­ng sei allerdings eine Art afrikanisc­he Renaissanc­e, eine Kulturrevo­lution, die die vorkolonia­le Geschichte Afrikas für eine selbstbest­immte Zukunft fruchtbar machen soll.

Der Autor fordert die Überwindun­g der kollektive­n Kränkungen. An deren Stelle treten soll die Wiederentd­eckung alter Traditione­n, afrikanisc­her Sprachen, Musik und Kunst. Den Weg weisen würden Literaten und Musiker der Gegenwart, leise Hoffnung setzt Sarr auch in die Afrikanisc­he Union, vor allem aber in kommende Generation­en gut ausgebilde­ter, vernetzter Menschen. Afrotopia ist eine aufrütteln­de Streitschr­ift für alle, die sich im Schatten gegenwärti­ger Globalisie­rung einen afrikanisc­hen Sonderweg vorstellen können. Felwine Sarr, „Afrotopia“. Aus dem Französisc­hen von Max Henninger. Matthes & Seitz, Berlin 2019

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