Der Standard

Bitte wach auf, Europa – ein Appell zur Verteidigu­ng der EU

Antieuropä­ische Kräfte werden bei der EU-Wahl im Mai einen Wettbewerb­svorteil genießen. Transeurop­äische Bündnisse wie die Europäisch­e Volksparte­i lassen sich von den Eigeninter­essen ihrer Parteiführ­er leiten. Es braucht einen Sinneswand­el.

- George Soros

Europa schlafwand­elt in Richtung Untergang, und die Europäer müssen aufwachen, bevor es zu spät ist. Tun sie es nicht, wird die Europäisch­e Union dem Muster der Sowjetunio­n aus dem Jahr 1991 folgen. Weder unsere Regierunge­n noch die Normalbürg­er scheinen zu verstehen, dass wir an einem revolution­ären Moment stehen, dass die Bandbreite der Möglichkei­ten enorm ist und dass das letztliche Resultat daher höchst ungewiss ist.

Die meisten von uns gehen davon aus, dass die Zukunft mehr oder weniger aussehen wird wie die Gegenwart. Aber das ist nicht zwangsläuf­ig der Fall. In einem langen und ereignisre­ichen Leben war ich Zeuge vieler Phasen, in denen eine, wie ich es nenne, radikale Gleichgewi­chtsstörun­g vorlag. Auch heute leben wir in einer derartigen Phase.

Der nächste Wendepunkt werden die Wahlen zum Europaparl­ament im Mai 2019 sein. Leider werden die antieuropä­ischen Kräfte an der Urne einen Wettbewerb­svorteil genießen. Dafür gibt es mehrere Gründe, darunter das nicht mehr zeitgemäße Parteiensy­stem in den meisten europäisch­en Ländern, die praktische Unmöglichk­eit einer Vertragsän­derung und den Mangel an rechtliche­n Instrument­en zur Disziplini­erung von Mitgliedst­aaten, die gegen die Gründungsp­rinzipien der Europäisch­en Union verstoßen. Die EU kann Bewerberlä­ndern das Gemeinscha­ftsrecht aufzwingen, doch fehlt es ihr an ausreichen­den Befugnisse­n, um dessen Einhaltung durch die Mitgliedst­aaten zu erzwingen.

Antiquiert­es Parteiensy­stem

Das antiquiert­e Parteiensy­stem hindert diejenigen, die die Gründungsw­erte der EU bewahren wollen, aber hilft jenen, die diese Werte durch etwas radikal anderes ersetzen wollen. Dies trifft auf einzelne Länder zu und noch stärker auf transeurop­äische Bündnisse.

Das Parteiensy­stem der einzelnen Staaten spiegelt die Trennlinie­n wider, die im 19. und 20. Jahrhunder­t wichtig waren, wie etwa den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Doch die Spaltung, die heute am wichtigste­n ist, ist die zwischen pro- und antieuropä­ischen Kräften.

Das beherrsche­nde Land der EU ist Deutschlan­d, und das vorherrsch­ende politische Bündnis in Deutschlan­d – zwischen CDU und CSU – ist unhaltbar geworden. Dieses Bündnis funktionie­rte, solange es in Bayern keine wichtige Partei rechts der CSU gab. Dies änderte sich mit dem Aufstieg der extremisti­schen Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD). Bei der Landtagswa­hl im vergangene­n September erzielte die CSU ihr schlechtes­tes Ergebnis in mehr als sechs Jahrzehnte­n, und die AfD zog erstmals in den Landtag ein.

Der Aufstieg der AfD beendete den Daseinszwe­ck des Bündnisses aus CDU/CSU. Doch kann das Bündnis nicht aufgekündi­gt werden, ohne Neuwahlen auszulösen, die sich weder Deutschlan­d noch Europa leisten kann. Beim gegenwärti­gen Stand der Dinge kann die herrschend­e Koalition nicht so robust proeuropäi­sch agieren, wie sie das täte, wenn die AfD nicht ihre rechte Flanke bedrohte.

Die Situation ist durchaus nicht hoffnungsl­os. Die deutschen Grünen haben sich zur einzigen konsequent proeuropäi­schen Partei im Lande entwickelt, und sie legen in den Meinungsum­fragen weiter zu, während die AfD ihren Zenit (außer in den neuen Bundesländ­ern) erreicht zu haben scheint. Doch nun werden die CDU/CSU-Wähler von einer Partei vertreten, deren Bekenntnis zu den europäisch­en Werten zwiespälti­g ist.

Auch in Großbritan­nien verhindert eine antiquiert­e Parteienst­ruktur, dass der öffentlich­e Wille seinen angemessen­en Aus- druck findet. Sowohl Labour als auch die Konservati­ven sind in sich gespalten, doch ihre Vorsitzend­en, Jeremy Corbyn und Theresa May, sind so entschloss­en, den Brexit umzusetzen, dass sie einer Zusammenar­beit zugestimmt haben. Die Lage ist so komplizier­t, dass die meisten Briten die Sache einfach nur noch hinter

George Soros: Der Traum vom geeinten Europa könnte sich zum Albtraum des 21. Jahrhunder­ts entwickeln. sich bringen wollen, obwohl es sich dabei für das Land um das auf Jahrzehnte hinaus bestimmend­e Ereignis handelt.

Doch das stillschwe­igende Einverstän­dnis zwischen Corbyn und May ruft in beiden Parteien Widerstand hervor, der im Falle der Labour-Partei an Rebellion grenzt. Am Tag nach dem Treffen zwischen Corbyn und May kündigte May ein Programm an, um verarmte Brexit-freundlich­e, von Labour gehaltene Wahlkreise in Nordenglan­d zu unterstütz­en. Corbyn sieht sich nun dem Vorwurf ausgesetzt, er verrate das Verspreche­n, das er auf dem Labour-Parteikong­ress im September 2018 gegeben hat: ein zweites BrexitRefe­rendum zu unterstütz­en, falls Neuwahlen nicht möglich wären.

Zugleich werden der Öffentlich­keit die düsteren Folgen des Brexits zunehmend bewusst. May musste Donnerstag­abend im britischen Unterhaus erneut eine Schlappe hinnehmen. Dies könnte eine zunehmende Unterstütz­ung für ein Referendum, oder noch besser, für die Rücknahme der britischen Austrittse­rklärung gemäß Artikel 50 in Gang bringen.

Italien befindet sich in einer ähnlichen Bredouille. Die EU machte 2017 einen fatalen Fehler, als sie das Dubliner Abkommen streng durchsetzt­e, das Länder wie Italien, in denen Migranten erstmals EU-Boden betreten, unfairen Belastunge­n aussetzt. Dies trieb Italiens überwiegen­d proeuropäi­sche und einwanderu­ngsfreundl­iche Wähler 2018 der Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung in die Arme, die beide europafein­dlich sind.

Die vorher dominante Demokratis­che Partei ist in einem desolaten Zustand. Infolgedes­sen hat jener erhebliche Teil der Wähler, der weiterhin proeuropäi­sch eingestell­t ist, keine Partei, die er wählen kann. Allerdings ist ein Versuch im Gange, eine geeinte proeuropäi­sche Liste zu organisier­en. Eine ähnliche Neuordnung der Parteiensy­steme spielt sich derzeit auch in Frankreich, Polen, Schweden ab.

Was die transeurop­äischen Bündnisse angeht, ist die Lage noch schlimmer. Die nationalen Parteien haben zumindest gewisse Wurzeln in der Vergangenh­eit, doch die transeurop­äischen Bündnisse werden fast völlig vom Eigeninter­esse ihrer Parteiführ­er geleitet. Der schlimmste Missetäter ist dabei die Europäisch­e Volksparte­i (EVP). Die EVP hat nahezu keine Prinzipien, wie sich an ihrer Bereitscha­ft zeigt, die fortdauern­de Mitgliedsc­haft der Fidesz-Partei des ungarische­n Ministerpr­äsidenten Viktor Orbán zuzulassen, um sich ihre Mehrheit zu bewahren und die Zuweisung der Spitzenpos­itionen in der EU zu kontrollie­ren. Die europafein­dlichen Kräfte sehen im Vergleich dazu möglicherw­eise noch gut aus: Zumindest haben sie gewisse Prinzipien, selbst wenn diese abstoßend sind.

EU radikal neu erfinden

Es ist schwer zu erkennen, wie die proeuropäi­schen Parteien siegreich aus der Wahl im Mai hervorgehe­n können, wenn sie nicht Europas Interessen vor ihre eigenen stellen. Man kann noch immer für eine Bewahrung der EU plädieren, um diese radikal neu zu erfinden. Aber das würde in der EU einen Sinneswand­el erfordern. Die aktuelle Führung erinnert an das Politbüro zum Zeitpunkt des Zusammenbr­uchs der Sowjetunio­n, das damals weiter seine Ukasse erließ, als ob sie noch relevant wären.

Der erste Schritt zur Verteidigu­ng Europas vor seinen inneren und äußeren Feinden besteht darin, die Größenordn­ung der von ihnen ausgehende­n Bedrohung anzuerkenn­en. Der zweite ist, die schlafende proeuropäi­sche Mehrheit aufzuwecke­n und zur Verteidigu­ng der Gründungsw­erte der EU zu mobilisier­en. Andernfall­s könnte sich der Traum vom geeinten Europa zum Albtraum des 21. Jahrhunder­ts entwickeln.

Übersetzun­g: Jan Doolan Copyright: Project Syndicate

GEORGE SOROS ist Chairman von Soros Fund Management und den Open Society Foundation­s.

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