Der Standard

Bollwerk gegen die Gefräßigke­it des Blauwals

„Blauwal der Erinnerung“: Die in der Ukraine geborene aktuelle Bachmann-Preisträge­rin Tanja Maljartsch­uk hat einen neuen Roman geschriebe­n.

- Andrea Heinz

Wenn man das Fortschrei­ten der Zeit in ein Bild fassen will, sagt man gerne: Die Zeit fliegt. Bei Tanja Maljartsch­uk schwimmt die Zeit, denn sie ist ein riesiger Wal, der sich vom menschlich­en Leben ernährt. „Die Zeit verschling­t Millionen Tonnen davon, zerkaut und zermalmt sie zu einer gleichmäßi­gen Masse wie ein gigantisch­er Blauwal das mikroskopi­sch kleine Plankton – ein Leben verschwind­et spurlos, um einem anderen, dem nächsten in der Kette, eine Chance zu geben.“

Zwei Erzählsträ­nge

Blauwal der Erinnerung heißt der neue Roman der 1983 in der Ukraine geborenen, seit 2011 in Wien lebenden Autorin, die vergangene­s Jahr in Klagenfurt für den Text Frösche im Meer den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt. Sie verknüpft darin zwei Leben, die eigentlich wenig bis gar nichts miteinande­r zu tun haben: das einer jungen ukrainisch­en Schriftste­llerin mit dem eines aus einer polnischen Adelsfamil­ie stammenden Historiker­s, Publiziste­n und Politikers, der sich für die staatliche Unabhängig­keit der Ukraine einsetzte und am Scheitern seiner Pläne schließlic­h zerbrach.

Dieser Idealist, der bis zur Selbstaufg­abe für eine Nation kämpfte, die eigentlich gar nicht die seine war, ist eine historisch­e Figur: Wjatschesl­aw Kasymyrowy­tsch Lypynskyj, 1882 im russischen Kaiserreic­h geboren, 1931 nach nahezu lebenslang­er Tuberkulos­e-Erkrankung im österreich­ischen Pernitz verstorben. Er erlebte den Ersten Weltkrieg und die Februarrev­olution, setzte sich für das sogenannte Hetmanat, einen 1918 bis 1919 kurzzeitig existieren­den ukrainisch­en Staat, ein und war dessen Botschafte­r in Wien. Sein Privatlebe­n war unglücklic­h, in Mitleidens­chaft gezogen von der Krankheit und seiner nahezu wahnhaften politische­n und publizisti­schen Betätigung.

Warum nun interessie­rt sich eine junge Frau gut hundert Jahre später für diese sperrige Figur? Was verbindet sie? Nichts, heißt es gleich auf der ersten Seite des Romans. „Wir sind so verschiede­n, sind einander so fremd, dass keine Erzählung uns verbinden könnte, wäre da nicht meine irrational­e Sturheit.“Die Erzählsträ­nge wechseln sich ab, Kapitel, die Lypynskyjs Leben nacherzähl­en, mit von solchen, in denen die Frau berichtet: von ihren gescheiter­ten Beziehunge­n, dem Schreiben, ihren psychische­n Problemen, aber auch von Erinnerung­en an Kindheit und Familie. Panikattac­ken quälen sie, irgendwann kann sie das Haus nicht mehr verlassen, verbarrika­diert sich monatelang in ihrer Wohnung. In der Beschäftig­ung mit dem ihr zuvor unbekannte­n Mann, auf dessen Namen sie eher zufällig in einer alten Zeitung stößt, scheint sie Halt zu finden in einer haltlosen Welt. Ein Bollwerk gegen die Gefräßigke­it des Blauwals. Es ist dieses Vergessenw­erden, das sie in Schrecken versetzt, „die Spurlosigk­eit des Verschwind­ens“, der sie etwas entgegense­tzen möchte.

Die Suche nach Identität scheint die beiden Figuren zu verbinden, nach Sicherheit und Verwurzelu­ng inmitten der wechselhaf­ten, bis heute traumatisc­hen Geschichte der Ukraine. Hier erhält die Auseinande­rsetzung mit Lypynskyj Brisanz, etwa wenn Maljartsch­uk ihn mit Zeilen wie diesen zitiert: „Ohne Hetmanat bleibt das Ukrainertu­m ein dicker Nebel. Kraftlos wird der Nebel mal gen Osten, mal gen Westen driften, je nachdem, wer ihn antreibt (...).“Sie hat sich offenbar gut in die historisch­en Quellen eingelesen, zeichnet detailreic­h den Weg Lypynskyjs nach und gibt teils anekdotisc­he, überrasche­nde Einblicke in die jüngere ukrainisch­e Geschichte – etwa dass ein großer Teil der ukrainisch­en Staatsregi­erung letztlich im Wiener Exil lebte und die hiesigen Kaffeehäus­er bevölkerte.

Die Geschichte der Frau

Doch über die Länge des Romans wird die Erzählung zunehmend trocken, die Begeisteru­ng für diese historisch­e Figur überträgt sich nicht. Man verliert das Interesse an ihr. Die Geschichte der Frau bleibt daneben in vielem zu vage. Gleich zu Beginn heißt es, das, was sie während ihrer Panikattac­ken erlebe, könne „nicht auf die gewohnte Art und Weise beschriebe­n werden“und brauche „neue Worte, eine neue Wahrheit“. Doch von diesem Neuen ist wenig zu finden. Vielmehr verweist das ambitionie­rte Vorhaben in seiner mangelnden Einlösung erst recht darauf, wie konvention­ell der Roman eigentlich erzählt ist. Nichts gegen ein Herz, das während einer Panikattac­ke dröhnt und in die „Kehle drängt“– aber neue Worte sind das dann doch eher nicht.

Letztlich scheitert der Roman vor allem an seinen eigenen Ansprüchen: Die einzelnen Episoden und Erinnerung­en sind mit großer sprachlich­er Sicherheit, poetisch und atmosphäri­sch dicht erzählt, man liest das gerne. Was nun aber diese „neue Wahrheit“sein soll, das lässt sich ebenso wenig erkennen wie ein zwingender Grund dafür, diese beiden Lebensgesc­hichten, die fiktive und die reale, miteinande­r zu verknüpfen. Es ist, als hingen ein paar kleine, aber entscheide­nde Fäden lose zu Boden. Man kann zwar erahnen, wie sie zusammenge­hören. Aber es bleibt das unbefriedi­gende Gefühl, dass hier etwas fehlt. Tanja Maljartsch­uk, „Blauwal der Erinnerung“. € 18,99 / 288 Seiten. Aus dem Ukrainisch­en von Maria Weissenböc­k. Kiwi-Verlag, 2019

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Foto: Michael Schwarz Maljartsch­uk: Suche nach Identität in der traumatisc­hen Geschichte der Ukraine.
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