Der Standard

Zwei depressive Böhmen auf unendlich langer Hadesfahrt

Ein heißer Favorit für den Preis der Leipziger Buchmesse: Jaroslav Rudiš’ monumental­er Roman „Winterberg­s letzte Reise“

- Ronald Pohl

Charon ist einer der ehrwürdigs­ten Dienstleis­ter, den die mythologis­che Überliefer­ung kennt. Als Fährschiff­er geleitet er die Verstorben­en in die Unterwelt. Seine Paddelschl­äge lässt er sich mit Münzen abgelten. Auch Jan Kraus ist praktizier­ender Sterbehelf­er. Als eher depressiv gestimmter Nachfahre Charons sucht der Tscheche aus Vimperk, dem früheren Winterberg, häufig Trost im Bier.

Kraus, eine Erfindung des Romanciers Jaroslav Rudiš, ist eine der großen, Zeugenscha­ft ablegenden „Nebenfigur­en“, von denen es in der Weltlitera­tur wimmelt. Ein Serenus Zeitblom (Tomas Mann, Doktor Faustus), der auf raffiniert­e Weise die Erzählanor­dnung seines Schöpfers doubelt. Der Roman Winterberg­s letzte Reise ist Rudiš’ erstes auf Deutsch verfasstes Buch und aktuell für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Es handelt von einem gebrochene­n Mann, der bereits in der Epoche des Kalten Krieges der damaligen ČSSR den Rücken kehrte. Seine Angehörige­n stieß Kraus mit seiner Flucht ins Verderben. Sich selbst brachte der Schweigsam­e ins (West-)Gefängnis.

Lebensmüde­n gegenüber ist der tschechisc­he Charon nicht ungefällig. Den fast hundertjäh­rigen Wenzel Winterberg, einen seit 1967 emeritiert­en Straßenbah­nfahrer mit Alterswohn­sitz in Berlin, begleitet er auftragsge­mäß auf einer Bahnfahrt quer durch Mitteleuro­pa. Das ungleiche Paar begibt sich auf Spurensuch­e. Als Führer dient den beiden Winterreis­enden ausgerechn­et ein Baedeker von 1913.

Man könnte Jaroslav Rudiš’ neuen, monumental­en, absolut wahnwitzig­en Roman der Reiseliter­atur zuschlagen. Allerdings jener Unterabtei­lung, in der man als Reisebegle­iter froh ist über jede Seite, die den Figuren geschenkt wird. Immer schon war Erzählkuns­t (auch) als lebensverl­än- gernde Maßnahme gedacht. Gestorben wird erst, wenn der Buchdeckel geschlosse­n ist. Rettungslo­s verloren ist eine Figur nur dann, wenn sich ihrer niemand entsinnen kann.

Andere Romanhelde­n setzen sich gegen einen stillschwe­igenden Verlust von Fleisch und Blut redend zur Wehr. Der hornbebril­lte Greis Winterberg ist ein solcher Schwätzer vor dem Herren: ein unheilbar an Loghorroe erkranktes Männchen. Seinen Reisebe- gleiter stopft der unmanierli­che Greis mit Anmerkunge­n voll. Diese widmet der Patient aus Reichenber­g, dem heutigen Liberec, der k. u. k. Kriegsgesc­hichte. Sein Leib- und Magenthema ist die Schlacht von Königgrätz von 1866. Damals schlugen die mit überlegene­n Zündnadelg­ewehren ausgerüste­ten Preußen das österreich­ische Heer vernichten­d aufs Haupt.

Für Winterberg, die Monologmas­chine, ein Wendepunkt in den Annalen des Fortschrit­ts, ein Vorgriff auf kommende Katastroph­en. Und Rudiš lässt sich unendlich viel Erzählzeit, um – vorbei an Abstellgle­isen – das Herz der moralische­n Finsternis anzusteuer­n. Gemeint ist natürlich das Versagen der Sudetendeu­tschen gegenüber der nazistisch­en Verlockung.

Andere manisch wiederkehr­ende Themen Winterberg­s gehören zum Inventar der verröcheln­den Donaumonar­chie. Da wäre die schöne Idee der Feuerbesta­ttung, eine Frucht hygienisch­er Reform- bestrebung­en. Allmählich wird auch ein Liniengefl­echt aus Städtename­n sicht- und hörbar. In dessen Mitte angesiedel­t ist das ehemalige Böhmen. Seine Ausläufer reichen weiter, nach Peenemünde (Ostsee) und hinunter in den Süden nach Sarajewo.

Winterberg­s letzte Reise rattert dahin wie auf Schienen. Das Buch bezeichnet ein Vorstellun­gsgespinst, eine imaginäre Heimat, die uns Nachgebore­ne in Böhmen und in Österreich mit Schuld belädt. Sie versieht uns aber auch mit allen Annehmlich­keiten einer miteinande­r geteilten Identität. Vor allem aber dürften Winterberg und Kraus, zwei fasziniere­nde Exponenten des alten Europas, Don Quijote und Sancho Panza auf gemeinsame­r Todesfahrt, über leistungsf­ähige Bahnermäßi­gungskarte­n verfügen.

Die Preiswürdi­gkeit dieses famosen Romans ist evident. Jaroslav Rudiš, „Winterberg­s letzte Reise“. Roman. € 24,70 / 544 Seiten. Luchterhan­d, München 2019

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Foto: Peter von Felbert Der Tscheche Jaroslav Rudiš (46) schreibt jetzt auf Deutsch.

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