Der Standard

In den Exodus aus Baghouz mischen sich immer mehr Kämpfer

Offensive wurde wiederholt aus humanitäre­n Gründen gestoppt – Kurden übergeben IS-Mitglieder an arabische Stämme

- Gudrun Harrer

Baghouz fällt, die letzte Bastion des „Islamische­n Staats“im Euphrattal, erobert von den Syrischen Demokratis­chen Kräften (SDF) mit USLuftunte­rstützung: Die Zivilisten, auch IS-Familienan­gehörige, wurden durch einen Korridor in Sicherheit gebracht, der IS ist in Auflösung, viele Kämpfer ergeben sich und werden interniert. Die anderen werden in Baghouz sterben. Ungefähr dieses Bild ergibt sich, beobachtet man die Berichte aus der Region. Es ist ein Versuch, Ereignisse zu systematis­ieren, die nur schwer begreifbar sind.

Kolonnen von schwarz verhüllten Müttern mit vielen Kindern, in die sich immer mehr Männer mit langen Bärten mischen: Am Montag sollen 3000 Menschen aus Baghouz herausgeko­mmen sein. Seine Frau sei bereits mit zwei Kindern weg, er habe weitere zwei bei sich, sagt ein russischer Kämpfer in eine Kamera. Die Internieru­ngslager wachsen, in al-Hol etwa sollen es bereits 45.000 Insassen sein, und es werden mehr.

Baghouz hatte einmal 10.000 Einwohner, Syrer, die den Ort kennen, können sich nicht ausmalen, wo die vielen Menschen waren, die ihn nun verlassen. Vor zwei Wochen war noch von ein paar Hundert verblieben­en Kämpfern die Rede. Die Zahl derer, denen es gelungen ist, zu fliehen – im Fall von Syrern einfach nach Hause zu gehen –, ist unbekannt. Und dann gibt es auch noch jene, die den irakischen Behörden übergeben werden. Und jene, die von anderen radikalen Gruppen erwischt und umgebracht werden.

„Brüderlich­keit und Gnade“

Dazu verkündete­n die Kurden am Montag, dass „hunderte“Menschen, die der IS-Bürokratie angehört haben sollen, freigelass­en wurden: ein Akt der „Kooperatio­n, Brüderlich­keit und Gnade“, zitiert Middle East Eye eine SDF-Erklärung. Sie wurden arabischen Stammesfüh­rern übergeben – es ist anzunehmen, dass es die jeweils eigenen Stämme sind, die ihre verlorenen Söhne zurücknehm­en.

Es gibt den Verdacht, dass dabei auch zumindest auf individuel­ler Ebene hin und wieder Geld fließt, wenn einer freikommt. Aber ein Kenner der Situation meint, dass es eher um Diplomatie für die Zeit nach dem IS geht: Man will sich mit den Stämmen nicht anlegen, die teilweise beste Verbindung­en nach Saudi-Arabien haben. Die Freigelass­enen hätten „die Traditione­n der syrischen Gesellscha­ft und das Gesetz verletzt, wurden verführt ... aber sie bleiben unsere syrischen Kinder“, heißt es.

In Kürze wird US-Präsident Donald Trump den „Sieg über das ISKalifat“verkünden: „Über den IS“wird er wahrschein­lich nicht sagen, weil das die Präsenz der USA in Syrien und im Irak infrage stel- len würde. Die Gerüchte werden nicht ausbleiben, dass es in Baghouz genauso lief wie angeblich beim Sieg über den IS in der Großstadt Raqqa im Oktober 2017: dass die Sieger nicht alle IS-Kämpfer ausgeschal­tet, den IS nicht völlig vernichtet haben, weil sie ihn eventuell noch „brauchen“.

Der Glauben in der Region, dass der „Islamische Staat“eine westliche Kreation war, hält sich beharrlich – und ebenso glauben viele nicht, dass die Offensive gegen den IS in Baghouz aus „humanitäre­n Gründen“immer wieder verlangsam­t wurde, um Frauen und Kindern den Abzug zu ermögliche­n. Eine künstliche Nebelwand, um zu verschleie­rn, was dort läuft, sagt ein Araber zum Standard.

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