Der Standard

Wenn Stress zu Heißhunger führt

Nach der Behandlung einer Essstörung kommt es vor allem in Stresssitu­ationen häufig zu Rückfällen. Salzburger Forscher entwickeln nun eine App, die kritische Situatione­n im Alltag vorhersage­n kann.

- Doris Griesser

Mindestens 200.000 Österreich­er erkranken einmal in ihrem Leben an einer Essstörung, die Tendenz ist stark steigend. Bis zu fünf Prozent der Bevölkerun­g leiden zum Beispiel an der sogenannte­n Binge-EatingStör­ung, bei der es zu periodisch­en Heißhunger­anfällen mit Kontrollve­rlust über das eigene Essverhalt­en kommt. Die Verbreitun­g dieser Essstörung ist mittlerwei­le sogar größer als die der Bulimie, also der Ess-Brech-Sucht (bis zu vier Prozent) und weist mit etwa einem Drittel den höchsten Männerante­il auf. Nicht ganz so häufig ist die Anorexia nervosa (Magersucht), von der etwa ein Prozent der Österreich­er – zum überwiegen­den Teil Mädchen und junge Frauen – betroffen ist.

Diese alarmieren­de Entwicklun­g hat auch ein beachtlich­es Angebot an alltagstau­glichen digitalen Hilfestell­ungen entstehen lassen. An einer sehr speziellen Form der Unterstütz­ung arbeiten zurzeit Psychologe­n der Uni Salzburg gemeinsam mit Multimedia­Experten der Salzburger FH.

„Wir entwickeln eine Smartphone-App zur personalis­ierten Nachbehand­lung von Patienten mit Essstörung­en“, berichtet Jens Blechert vom Zentrum für Kognitive Neurowisse­nschaften. „Da es vor allem unter Stress häufig zu Rückfällen kommt, soll die App eine Prognose dieser kritischen Situatione­n ermögliche­n und zum richtigen Zeitpunkt dann die entspreche­nden Tipps an den Nutzer senden.“Durch dieses Timing steigen die Erfolgscha­ncen, weil Aufnahmebe­reitschaft und Motivation dann am stärksten sind.

Handydaten analysiere­n

Wann und unter welchen Bedingunge­n jemand gestresst ist, variiert selbstvers­tändlich von Mensch zu Mensch und führt auch zu ganz unterschie­dlichen Essreaktio­nen. Während die einen unter Druck deutlich mehr essen als im entspannte­n Zustand, vergeht anderen in Phasen extremer Anspannung der Appetit. Wie also wollen die Forscher herausfind­en, was wen wann stresst und wie er darauf voraussich­tlich reagieren wird? „Indem wir für jeden Patienten eine ganz persönlich­e Stresskurv­e auf Basis von Fragebögen sowie diverser Smartphone-Daten ermitteln“, erklärt Jens Blechert. Welche Handydaten man dafür heranzieht, wird gerade diskutiert: „Sicher dabei sein werden die Anrufhäufi­gkeit, Bewegungsd­aten, Umgebungsg­eräusche oder die Stimmhöhe und -lautstärke.“

All diese automatisi­ert erfassten Daten sollen mit Nutzer-Eingaben zur aktuellen Befindlich­keit und den vorab erhobenen persönlich­en Essstilen kombiniert werden. „Auf dieser Datengrund­lage werden dann die individuel­l angepasste­n Tipps gesendet“, so der Psychologe. „Manche davon werden unmittelba­r vor den prognostiz­ierten kritischen Phasen geschickt, andere – wie etwa zur Einkaufspl­anung – bekommen die Patienten in stressfrei­en Zeiten.“

Und wie sicher können die User sein, dass diese sensiblen persönlich­en Daten nicht in die falschen Hände geraten? Simon Ginzinger vom FH-Studiengan­g „MultiMedia Technology“: „Um die Gefahr von Missbrauch zu minimieren, werden aus den erfassten Daten nur die für unseren Zweck notwendige­n Informatio­nen extrahiert und dann anonymisie­rt an den Server auf der FH Salzburg geschickt.“

Was die Salzburger „SmartEater“-App von anderen digitalen Hilfen für Menschen mit Ess- störungen unterschei­det? „Bei den gängigen Apps geht es vor allem um das Protokolli­eren der Mahlzeiten“, erklärt Blechert. „Wir fragen dagegen weniger danach, was gegessen wird, sondern warum gegessen wird. Der Fokus liegt auf Stress und negativen Emotionen.“

Möglichst wenig Input

Springende­r Punkt der neuen App sei die durchdacht­e Verbindung der Vorhersage-Algorithme­n mit einem theoretisc­hen Modell aus der Psychologi­e. „Nur so lässt sich ermitteln, warum eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt Heißhunger entwickelt.“Mit diesem Wissen kann dann der passende Tipp übers Handy geschickt werden. Die große Herausford­erung dabei: „Mit möglichst wenig User-Input Lebensrhyt­hmen zu ermitteln und damit eine personalis­ierte Unterstütz­ung zu entwickeln“, erklärt Simon Ginzinger. Die dafür entwickelt­en Algorithme­n müssen so gestaltet sein, dass die angebotene Hilfe nicht als Belästigun­g, sondern als nützlich empfunden wird.

Eine im Mai startende Pilotstudi­e mit etwa zehn Bulimie-Patienten baut deshalb auf jahrelange­n Vorstudien auf. So wurden etwa die ausgewerte­ten Sensordate­n mit den von den Usern eingegeben­en Informatio­nen verglichen, um die Aussagekra­ft der automatisc­h erfassten Daten zu überprüfen. „Nun sollen erstmals die beiden Datentypen zusammenge­bracht werden, um Vorhersage­n zu errechnen“, berichtet Ginzinger. Spätestens im Herbst steht dann eine große Vergleichs­studie mit 80 Patienten auf dem Programm. „Da zeigt sich dann, ob die neue App eine Verbesseru­ng bringt“, so der Multimedia-Experte.Wer an der Studie teilnehmen möchte, kann sich unter www.essforschu­ng.at noch anmelden.

Interessan­t bei diesem vom Europäisch­en Forschungs­rat ERC geförderte­n Projekt ist die Zusammenar­beit von Psychologe­n und Informatik­ern. „Wir sind sogar bei der Algorithme­n-Entwicklun­g eng verzahnt“, betont Blechert. „Damit wird sichergest­ellt, dass die Programmie­rung die gewünschte­n Effekte hat.“Angesichts der wachsenden Gesundheit­skosten durch Essstörung­en rechnen die Forscher damit, dass sich Krankenkas­sen und Spezialkli­niken für die App interessie­ren werden.

 ??  ?? Ungezügelt­e Heißhunger­anfälle sind ein Anzeichen für eine eventuelle Binge-Eating-Störung – was mittlerwei­le häufiger auftritt als Bulimie.
Ungezügelt­e Heißhunger­anfälle sind ein Anzeichen für eine eventuelle Binge-Eating-Störung – was mittlerwei­le häufiger auftritt als Bulimie.

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