Der Standard

Russische Liebe im Tauwetter

Wiederentd­eckung: Michail-Kalik-Retro im Filmmuseum

- Dominik Kamalzadeh

Fragt man die Bevölkerun­g nach der Liebe, gibt sie am Ende mehr über den Zustand der Gesellscha­ft als über Privates preis. Das erfuhr Pier Paolo Pasolini in Gastmahl der Liebe, als er sich 1961 im Land nach sexuellen Präferenze­n erkundigte. Nicht viel anders erging es dem russischen Filmemache­r Michail Kalik sieben Jahre später. Die jungen Sowjetbürg­er lächeln in die Kamera und zeigen das Selbstbewu­sstsein einer neuen Generation.

Für Kalik wurde Lieben... der letzte Film, den er in der UdSSR drehte. Leonid Breschnew hatte die Tauwetter-Phase unter Chruschtsc­how beendet. Kalik hatte seinen Film gerade noch in Moldau verwirklic­hen können. In der stärksten der drei Episoden von Lieben... erzählt er von einem Pärchen, das eine Nacht durch Moskau irrt, ohne einen Schlafplat­z zu finden, dabei scheinen ihre Gefühle zu erkalten.

Michail Kalik, 1927 als Sohn einer jüdischen Familie aus Kiew geboren, bekam antisemiti­sche Repression­en unter Stalin schon während des Filmstudiu­ms zu spüren und wurde mehrere Jahre in Arbeitslag­ern interniert. 1954 kam er frei und begann sofort, Filme zu drehen. Der Sonne entgegen (1961) und Auf Wiedersehe­n, Jungs (1964) zählen heute zu den berühmtest­en Werken des Tauwetter-Kinos. Die Ahnung, dass der zaghafte Aufbruch kein gutes Ende nehmen wird, ist ihnen immanent. Das hat viel mit Kaliks Skepsis gegenüber nationaler Heroisieru­ng zu tun.

In Der Sonne entgegen ist es ein kleiner Bub, der sich in das Abenteuer Großstadt begibt und dabei ein Leben in komprimier­ter Form durchläuft. Bereits in diesem Film liefert der Krieg in Person eines beinlosen Mannes einen Moment innerer Einkehr; noch stärker kommt er in Auf Wiedersehe­n, Jungs zur Geltung, wo Kalik dokumentar­ische Aufnahme von Schlachten in die Geschichte­n um drei Freunde einwebt.

Kalik verließ die Sowjetunio­n und ging nach Israel, wo er nur einen Film drehte. Erst 1991 fertigte er mit Die Rückkehr des Windes eine biografisc­he Collage, die naturgemäß auch eine der uneingelös­ten Versprechu­ngen seiner ehemaligen Heimat wurde. Bis 15. 3.

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