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D A V I N C I !

Manche sehen Leonardo da Vinci als Vorläufer der modernen Wissenscha­ft. Tatsächlic­h verließ sich das Genie stärker auf eigene Beobachtun­gen als auf in der Renaissanc­e gültige Theorien.

- Thomas Bergmayr

Die wahren und wissenscha­ftlichen Prinzipien der Malerei werden ausschließ­lich vom Geist erfasst, ohne das Werk der Hand“: Für Leonardo da Vinci war die Kunst untrennbar mit der Wissenscha­ft verbunden, das ist aus zahlreiche­n Zitaten überliefer­t. Mehr noch: Ohne eine genaue Beobachtun­g der Natur schien für das Renaissanc­egenie Malerei nicht denkbar. Genaueste Kenntnisse in der Optik, der Mathematik und ganz besonders in der Anatomie des Menschen bildeten nach seiner Überzeugun­g das unverzicht­bare Fundament

jeglichen künstleris­chen Schaffens.

Umgekehrt war für Leonardo die Wissenscha­ft auch auf die Kunst angewiesen. Sie repräsenti­ere das Wesentlich­e in den Erscheinun­gen der Natur, wie er schreibt, und fasse in einem Bild zusammen, was der Forscher an vielen Beispielen in der Natur studiert habe und mit Worten nicht ausdrücken könne.

Vorreiter der Moderne

Viele Experten sehen in Leonardo da Vinci daher auch einen Vorreiter der modernen Wissenscha­ften, als ein Universalg­enie der menschlich­en Ideengesch­ichte, das lange vor Francis Bacon oder René Descartes erkenntnis­theoretisc­he Ansätze der modernen empirische­n Wissenscha­ft formuliert­e, die ausschließ­lich auf Sinneserfa­hrung beruhen. Für da Vinci war die Welt um ihn herum ein Wunder und ganz sicher nicht deduktiv zu erfassen: Er verwarf damit die vorgegeben­en theoretisc­hen Überlegung­en seiner Zeit, die sich großteils auf antike Autoren und die Bibel gründeten. Vielmehr ging er rein induktiv vor. Leonardo führte Beobachtun­gen durch und nahm sie als Ausgangspu­nkt für die Entwicklun­g eigener theoretisc­her Ideen.

Ohne Uni-Zugang

Dass sich sein geradezu revolution­ärer Zugang zur Interpreta­tion der Natur so sehr von der seiner Zeitgenoss­en unterschei­det, könnte an seiner schulische­n Bildung liegen – die im Grunde praktisch nicht vorhanden war: Als uneheliche­m Sohn einer 16-jährigen Magd und eines Notars im toskanisch­en Ort Vinci blieb Leonardo nach der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunder­ts üblichen Volksschul­laufbahn der Zugang zu einer universitä­ren Ausbildung versagt.

Im Alter von 17 Jahren kam Leonardo beim angesehene­n Florentine­r Maler und Bildhauer Andrea del Verrocchio als Lehrling unter, was den Beginn seiner Laufbahn als profession­eller Künstler markierte. Beliebt war er freilich nicht bei seinen späteren Auftraggeb­ern. Er galt als launisch, unzuverläs­sig und unprodukti­v, was sich in seinem vergleichs­weise kleinen OEuvre widerspieg­elte. Tatsächlic­h aber war Leonardo ein von Wissensdur­st Getriebene­r. Den wenigen überliefer­ten Gemälden stehen mehr als 13.000 Blätter gegenüber, angefüllt mit wissenscha­ftlichen Zeichnunge­n, die ihn als außerorden­tlichen Architekte­n, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilo­sophen ausweisen.

Darüber hinaus entwarf er unter anderem Waffen, Wasserpump­en und Fluggeräte, darunter Gleiter, die jenen der Gebrüder Wright vier Jahrhunder­te später verblüffen­d gleichen, sowie einen Vorläufer heutiger Hubschraub­er. Er zeichnete Landkarten und studierte die Bahnen der Planeten – es existierte kaum ein Gebiet, das Leonardo da Vinci nicht fasziniert hätte.

Sein besonderes Interesse jedoch galt der Anatomie, die damals zwar durchaus zur Künstlerau­sbildung zählte, freilich jedoch nicht in dem extremen Ausmaß, das Leonardo betrieb: Er holte sich im Laufe der Zeit dutzende Leichen in seine Ateliers, um sie des Nachts zu sezieren und insbesonde­re die Funktionsw­eise von Herz und Gehirn zu entschlüss­eln. Nicht alle seine Zeitgenoss­en waren davon angetan, wodurch er sich bei einigen den zweifelhaf­ten Ruf eines Zauberers eingehande­lt hat.

Worum es Leonardo da Vinci dabei letztlich ging, hat er uns in eigenen Worten überliefer­t: Sein Ziel war es nicht nur, den menschlich­en Körper naturgetre­u malen zu können, er wollte ihn – ganz im Sinne eines modernen Wissenscha­fters – verstehen: „Der Maler, der nur aus Praxis und nach dem Urteil des Auges, ohne die Hilfe der Vernunft abbildet, ist wie der Spiegel, der alle ihm entgegenge­setzten Dinge nachahmt, ohne Kenntnis davon zu besitzen.“

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Mehr als 13.000 Notizblätt­er hat Leonardo da Vinci hinterlass­en, viele davon geradezu überladen mit wissenscha­ftlichen Zeichnunge­n. Anatomisch­e Studien wie diese nehmen dabei einen breiten Raum ein.
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Foto: Imago Images / United Archives Leonardos berühmter Entwurf eines Hubschraub­ers.

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