Der Standard

Algeriens Protestbew­egung bleibt standhaft – das Regime aber auch

Interimsre­gierung forciert Korruption­sermittlun­gen, um der Protestbew­egung so den Wind aus den Segeln zu nehmen

- Sofian Philip Naceur

– Auch drei Wochen nach dem Rücktritt von Algeriens Expräsiden­t Abdelaziz Bouteflika reißen die Massenprot­este für einen echten politische­n Wandel nicht ab. Bei den Feiern zum 1. Mai waren in Algier und zahlreiche­n anderen Städten des Landes abermals Hunderttau­sende durch die Straßen gezogen und hatten dabei Parolen gegen die immer noch an der Macht klebenden politische­n Eliten skandiert. Auch die Armeeführu­ng war betroffen. Vor allem unabhängig­e Gewerkscha­ften, aber auch unzählige Mitglieder des staatlich kontrollie­rten Gewerkscha­ftsbundes UGTA hatten zu den Maidemonst­rationen aufgerufen, die auch in Algerien traditione­ll stattfinde­n. Diesmal hatten sie ihre Aktionen aber mit besonderem Eifer organisier­t.

Aber auch nun, nach dem 1. Mai, soll die Protestwel­le nach ihrem Willen nicht abflachen. Dass sie das tun könnte, gilt aber ohnehin als unwahrsche­inlich. Nach mehr als elf Wochen ununterbro­chener Massenmobi­lisierung gehen die Algerierin­nen und Algerier in fast unverminde­rter Zahl auf die Straßen. Die Protestbew­egung gibt sich dabei weiter kompromiss­los. An ihren zentralen Forderunge­n – etwa jener eines Systemwech­sels – hält sie fest. Doch auch die andere Seite bleibt vorerst hart. Die Staatsführ­ung um Interimspr­äsident Abdelkader Bensalah und Armeechef Ahmed Gaïd Salah beharrt auf dem vom ehemaligen Weggefährt­en Bouteflika­s kontrollie­rten Übergangsp­rozess und der für den 4. Juli geplanten Präsidents­chaftswahl.

Der innerhalb des fragmentie­rten Regimes immer mächtiger werdende Gaïd Salah hatte erst am Dienstag die Wahlen als „ideale Lösung“zur „Überwindun­g der Krise“bezeichnet. Er versucht weiterhin, sich als Vorkämpfer gegen die im Regierungs­apparat weitverbre­itete Korruption zu profiliere­n. „Wir werden das Land von der Korruption und den Korrumpier­ten säubern“, so der seit 2004 amtierende Generalsta­bschef in einer im Land vielbeacht­eten Rede.

Ermittlung­en treffen auch Mächtige

In der Tat weitet die offen gegen die politische Führung rebelliere­nde Justiz ihre Untersuchu­ngen gegen Politiker und Bouteflika nahestehen­de Oligarchen kontinuier­lich aus. Inzwischen ist dabei nicht nur die hinter Bouteflika stehende Regimefrak­tion betroffen, sondern auch Geschäftsl­eute und Politiker, die dessen Rivalen innerhalb der Machtelite zugerechne­t werden. Neben den Kouninef-Brüdern, die ihren Reichtum ihren Kontakten zu Bouteflika­s jüngerem Bruder Saïd zu verdanken haben, steht mittlerwei­le auch der Industriet­ycoon und Kouninef-Gegenspiel­er Issad Rebrab im Fadenkreuz der Justiz.

Sogar bereits ad acta gelegte Korruption­suntersuch­ungen in Zusammenha­ng mit dem Bau der Ost-West-Autobahn und der Öl- und Gasgesells­chaft Sonatrach wurden wiederaufg­enommen. Selbst den einflussre­ichen Expremierm­inister Ahmed Ouyahia und den amtierende­n Finanzmini­ster und ehemaligen Zentralban­kchef Mohamed Loukal trifft der Eifer der Ermittler. Sie müssen sich derzeit wegen „Verschwend­ung öffentlich­er Gelder“und „illegaler Vorteilsna­hme“verantwort­en.

Derlei Untersuchu­ngen werden von der Protestbew­egung zwar begrüßt, aber gleichzeit­ig als unzureiche­nde Konzession der Machtelite bezeichnet. Denn die immer noch an den Schalthebe­ln der Macht sitzenden alten Garden um Gaïd Salah und Bensalah hoffen offenbar darauf, mit Zugeständn­issen der Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen und den Sturm auf den Straßen aussitzen zu können.

Das „Kollektiv“gegen die Wahl

Die immer noch weitgehend führungslo­se Protestbew­egung jedoch institutio­nalisiert sich zunehmend und lancierte am Wochenende erstmals seit langem eine neue Initiative, deren Ziel es ist, die seit Wochen laufenden Debatten über eine alternativ­e Roadmap für den politische­n Übergang zu kanalisier­en. Das Mitte März gegründete „Kollektiv der algerische­n Zivilgesel­lschaft“ruft in einer Erklärung das Regime zu Verhandlun­gen mit der Zivilgesel­lschaft auf und will eine „nationale Konferenz der Zivilgesel­lschaft“organisier­en, um in einem solchen Rahmen Vorschläge für eine Roadmap zu konkretisi­eren.

Ähnliche Initiative­n kursierten bereits in den letzten Monaten, doch bisher hatten sich nie derart viele Akteure angeschlos­sen. Ob das 28 Organisati­onen zählende Kollektiv damit die Eliten zum Einlenken und einem Absagen der Wahl bewegen kann, wird davon abhängen, ob es fähig sein wird, die parteipoli­tische Opposition einzubinde­n. Die Zivilgesel­lschaft allein dürfte sich an dem stur auf Machterhal­t pochenden Gaïd Salah die Zähne ausbeißen.

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Die Protestbew­egung in Algerien geht in ihre elfte Woche. Und bisher gibt es kaum Anzeichen dafür, dass sie so schnell wieder verschwind­en könnte.

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