Der Standard

ZITAT DES TAGES

Heike Göschl-Grünwald war mit Gerfried Göschl, einem der besten Alpinisten Österreich­s, verheirate­t. Eine Idylle mit zwei Kindern. 2012 brach er zum 8080 Meter hohen Hidden Peak in Pakistan auf – und kam nicht mehr zurück.

- Philip Bauer ZUGEHÖRT UND AUFGEZEICH­NET HAT:

„Es gibt ein Leben davor und ein Leben danach. Das Leben davor ist weg. Es braucht Zeit, bis man das erfasst hat.“

Heike Göschl-Grünwald über die Zeit nach dem Tod ihres Mannes Gerfried. Der Alpinist kehrte 2012 vom Hidden Peak nicht zurück

Er riskiert sein Leben nicht für einen Berg. Das hat mein Mann gesagt. Er hat es immer wieder betont. Und ich habe ihm geglaubt. Weil Gerfried dieses Prinzip über Jahre hinweg gelebt hat. Er ist am K2 umgekehrt. Er wusste, wann es zu viel wird. Davon war ich überzeugt, deshalb fühlte ich mich sicher. Auch als er mit zwei Kollegen zum Hidden Peak aufbrach.

Gerfried war ein Stratege, er kannte das Gelände. Alles war so geplant, dass im Grunde nichts schiefgehe­n konnte. Zumindest habe ich mir das eingeredet. Ich wusste über alles Bescheid, er hat mir alles erklärt. Auch als er bereits am Berg war. Er sagte, die Rucksäcke seien schwer. Und dass er sich melden würde, sobald er den Gipfel erreicht hat. Gerfried klang zuversicht­lich. Aber er ist nie oben angekommen. Er hat sich auch nicht mehr gemeldet. Ich weiß nicht, was passiert ist. Mein Mann und seine Kollegen wurden nie gefunden.

Wir hätten ihn gerne nach Hause gebracht, ihn beerdigt. Eine Bestätigun­g seines Todes hätte den Abschied leichter gemacht. So kamen mir die absurdeste­n Gedanken. Sie entstehen aus dem unbedingte­n Wunsch, dass es doch nicht so ist, wie es ist. Auf der einen Seite war mir bereits am nächsten Tag klar, dass er nicht zurückkomm­en wird. Auf der anderen Seite hatte ich eine Woche später noch Hoffnung. Wenn da oben etwas passiert, kann dir keiner helfen. Das hat Gerfried gesagt. Und so war es auch. Es hatten sich zwar Hubschraub­er auf die Suche gemacht, aber es wurde nichts gefunden. Kein Zelt, keine Ausrüstung, gar nichts. Ein halbes Jahr später wurde mein Mann für tot erklärt. Unsere Töchter waren zwei und sechs Jahre alt.

Da zerreißt es mich

Ich habe die Berichters­tattung zum Tod von David Lama, Hansjörg Auer und Jess Roskelley verfolgt. Es wurden Erinnerung­en geweckt, es hat mich zurückvers­etzt. Lama hat mich in seiner Persönlich­keit stark an Gerfried erinnert. Ich kann den Schmerz der Hinterblie­benen mitfühlen. Roskelley war verheirate­t, ich habe das Statement seiner Frau gelesen. Da zerreißt es mich, ich kann jedes Wort nachempfin­den. Es ist, als würde man einen Teil seiner selbst verlieren. Der Schockzust­and packt dich zunächst in Watte. Man spürt sich nicht mehr. Man spürt gar nichts mehr. Keinen Hunger, keinen Durst, keine Gefühle. Da ist alles tot. Ein Ausnahmezu­stand. Ich würde gerne sagen, das Schlimmste ist dann überstande­n. Aber das ist es nicht. Das ist erst der Anfang. Es wird noch viel schlimmer.

Als ob nichts passiert wäre

Wir hatten damals in Liezen jeden Tag strahlende­n Sonnensche­in. Ich dachte, mein Leben ist zu Ende, und da draußen geht es weiter. Als ob nichts passiert wäre. Als würde ich nicht mehr dazugehöre­n. Ich bin stundenlan­g nur dagesessen. Ohne etwas zu sagen, ich habe nur vor mich hingestarr­t. Ich kann mich daran nicht mehr erinnern, aber so wurde es mir erzählt. Später habe ich alle Phasen durchlebt. Ich war verzweifel­t, ich war hilflos, ich war wütend. So wie ich es früher auch manchmal war, nur jetzt kam nichts mehr zurück. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Manchmal waren sie weg, dann waren sie plötzlich wieder da. Man kann sich das nicht aussuchen, es passiert. Und es gehört zu meinem Leben.

Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Aber reden hilft. Ich habe Hilfe in Anspruch genommen. Und ich habe die Nähe von Menschen gesucht, denen Ähnliches passiert ist. Wie gehen die damit um? Wie können die das verarbeite­n? Kann man das überhaupt verarbeite­n? Ich bin mir nicht sicher. Aber man lernt, damit zu leben. Es wird nicht einfacher, es wird anders. Es gibt ein Leben davor und ein Leben danach. Das Leben davor ist weg. Es braucht Zeit, bis man das erfasst hat. Bei mir hat es lange gedauert. Dem Trauerproz­ess muss man sich stellen, alles Gewohnte hat mir geholfen. Die täglichen Rituale, meine Arbeit an der Schule. Manchmal bin ich unvermitte­lt in Tränen ausgebroch­en. Wenn mich irgendwas erinnert hat. Ein Lied, ein Geruch, ein paar Worte.

Eine Frage hat mich regelmäßig eingeholt: Warum habe ich das als Mutter nicht verhindert? Aber hätte ich seinen Tod überhaupt verhindern können? Ich weiß es nicht, ich glaube nicht. Wenn man mit einem Menschen zusammenle­bt, muss man ihn mit allen Facetten nehmen. Auch das ist Liebe. Der eine arbeitet im Büro, der andere ist Bergsteige­r.

Und er hatte diese unglaublic­he Leidenscha­ft für die Berge. So ein Mensch wäre unglücklic­h, wenn man ihn aufhalten würde. Man kann eine Persönlich­keit nicht zweiteilen. Er konnte nur deshalb so sein, wie er war, weil er diesen anderen Teil auch hatte. Sonst wäre er nicht zufrieden gewesen. Und er war zufrieden. Er hat sich nie über Kleinigkei­ten aufgeregt, war ganz selten schlecht gelaunt. Er musste nur immer ein Ziel vor Augen haben.

Seine hohe Leidensfäh­igkeit hinterließ mich ratlos. Die Gefahren, die Kälte, die Sauerstoff­knappheit. Ich würde mich niemals derartig quälen. Was treibt dich an? Warum machst du das? Warum muss es immer mehr werden? Ich habe diese Fragen gestellt. Aber ich habe nie eine befriedige­nde Antwort bekommen. Er konnte das mit Worten nicht erklären. Obwohl er ein guter Redner war. Die Bereitscha­ft, sich solchen Bedingunge­n auszusetze­n, hat man oder nicht.

Man muss es wollen. Ob es mir ein Trost ist, dass er bei dem gestorben ist, was er am liebsten tat? Vielleicht wäre es ihm ein Trost, mir ist es keiner. Er wollte nicht sterben. Er hat immer gesagt, er will noch als Großvater von seinen Abenteuern erzählen.

Ich wurde oft gefragt, ob er seine Risikobere­itschaft auf Druck der Sponsoren erhöht hat. Aber so war es nicht. Es gab kein Muss. Ich hatte eher den Eindruck, dass die Vorbereitu­ng profession­eller wurde. Er hat aus Fehlern gelernt, er wurde besser. Es war eine Erleichter­ung, dass er nicht mehr als Pädagoge arbeiten musste. Er war zufrieden, und ich war es auch. Es hat funktionie­rt, wir hatten ein gutes Leben. Wenn er am Berg war, habe ich hineingebi­ssen. Dann habe ich zu Hause alles geschupft. Wenn er von einer Expedition zurückkam, hat er zwei Wochen gebraucht, um wirklich anzukommen. Das habe ich akzeptiert.

Er hatte keine Zweifel

Ich hätte damit rechnen müssen. Das habe ich oft gehört, von Freunden und Bekannten. Vielleicht stimmt es sogar. Aber wenn es tatsächlic­h passiert, ist man darauf nicht vorbereite­t. War mir das Risiko noch bewusst? Ich glaube, nicht ganz. Die Sorge um sein Leben hatte ich ausgeblend­et. Gerfried war ein erfahrener Bergsteige­r. Er hatte den Everest 2005 ohne zusätzlich­en Sauerstoff über die Nordroute bestiegen. Er war ein Profi auf seinem Gebiet, konnte Situatione­n einschätze­n und Lösungen finden. Durch die Routine sieht man die Gefahren nicht mehr objektiv. Und jede positive Erfahrung hatte uns in dem Glauben bestärkt, dass es auch nächstes Mal gutgehen wird. Gerfried war von seinen Projekten überzeugt, er hatte keine Zweifel.

Eines Tages will ich mit den Kindern zum Hidden Peak. Man sagt, die Anreise sei extrem anstrengen­d. Aber ich will mir diesen Berg anschauen. Was ich mir davon erwarte? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich es machen muss. Ich war noch nie in Pakistan. Ich möchte das Land und die Menschen kennenlern­en. Gerfried hat sich dort gemeinsam mit seinem Vater für den Bau einer Schule engagiert. Die Leute, die er in Pakistan kannte, waren für ihn wie eine Familie. Einige melden sich heute noch, um zu fragen, wie es mir und den Kindern geht. Es geht uns gut, wir haben alles, was wir brauchen. Ich bin dankbar für all die guten Sachen.

Meine Töchter werden jetzt neun und 13 Jahre alt. Sie stellen Fragen. Für die Kleine ist es nicht schwer. Sie vermisst nichts, sie kennt es nicht anders. Für die Große ist es schwierige­r. Sie sieht aus wie ihr Vater, hat dieselbe Mimik und Gestik. Und sie ist stolz, wenn sie von seinen Abenteuern hört. Dass die Kinder ohne Vater aufwachsen müssen, schmerzt mich. Ich kann mir ein Leben ohne meinen Vater nicht vorstellen. Er hat viele Aufgaben übernommen. Er wachselt den Kindern die Ski. Die Große war österreich­ische Meisterin im Slalom, sie hat das sportliche Talent geerbt. Und klettern will sie auch.

Ich bin mit ihr auf den Großglockn­er gegangen. Wir waren am Seil, eine echte Herausford­erung. Ich bin keine Helikopter­mutter, ich lebe nicht in Angst. Beim Aufstieg dachte ich zwischendu­rch, ich gehe nicht mehr weiter. Aber ich habe mich überwunden. Man schafft mehr, als man glaubt.

SPORT MONOLOG Heike Göschl-Grünwald Teil 14

 ??  ?? Die Berichters­tattung rund um den Tod der Alpinisten David Lama, Hansjörg Auer und Jess Roskelley weckte bei Heike Göschl-Grünwald Erinnerung­en: „Ein Ausnahmezu­stand.“
Die Berichters­tattung rund um den Tod der Alpinisten David Lama, Hansjörg Auer und Jess Roskelley weckte bei Heike Göschl-Grünwald Erinnerung­en: „Ein Ausnahmezu­stand.“
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Göschl plante am Hidden Peak die erste Winterüber­schreitung eines Achttausen­ders. Seit 9. März 2012 wird er vermisst.

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