„Klima ist das Megathema, das die Leute umtreibt“
Die Spitzenkandidatin von Europas Grünen, Ska Keller, stellt im EU-Wahlkampf sehr starkes Interesse der Bürger für Europathemen fest. Besonders der Klimawandel bereite Sorgen, der Brexit mobilisiere zum Wählen. EU-Kommissionschef solle nur werden, wer sic
Die Grünen werden die Wahl des nächsten EU-Kommissionspräsidenten ganz davon abhängig machen, was er im Bereich Klimaschutz liefert. Bei seiner Wahl in Straßburg wollen sie sich laut Ska Keller von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron niemand aufzwingen lassen.
Standard: Sie fahren kreuz und quer durch Europa, zum zweiten Mal nach 2014. Wie fühlt sich der Wahlkampf diesmal an?
Keller: Es ist intensiver, es interessieren sich mehr Leute für Europathemen. Sie sagen auch oft in Gesprächen, dass sie jetzt etwas tun wollen; dass sie ihre Zukunft nicht anderen überlassen wollen.
Standard: Sorge um die Zukunft? Keller: So würde ich das sehen. Viele verweisen auf den Brexit. Sie sehen, dass Europa doch sehr zerbrechlich ist. 2014 war es so, dass sich die Presse nicht immer für die Spitzenkandidaten interessiert hat. Jetzt gibt es große Berichterstattung.
Standard: Und gibt es Länderbesonderheiten?
Keller: Beim letzten Mal war die Aufmerksamkeit in Nordeuropa nicht so stark, im Osten und Süden dagegen war sie groß. Das hat sich geändert. Wir waren zum Beispiel in Finnland, da gibt es einfach viel mehr Interesse.
Standard: Offenbar kommen die Grünen auch in Österreich stark zurück – in Deutschland sowieso. Was ist Ihre Erklärung?
Keller: Es geht uns überall sehr gut. In Schweden ist die Lage ähnlich wie in Österreich. In Frankreich ist es auch gut, da sind wir stabil bei neun Prozent.
Standard: Sie klingen sehr optimistisch. Gehen Sie von mehr als derzeit 52 Mandaten aus?
Keller: Wir haben gute Aussichten, die stärkste grüne Fraktion zu werden, die wir je hatten. Damit könnten wir noch mehr mitgestalten als bisher. Manche Abstimmungen im Europäischen Parlament sind sehr knapp wegen der wechselnden Mehrheiten. Jede Stimme mehr ist da ein Gewinn.
Standard: Österreichs Grüne setzen auf klassische Themen: Klimaschutz, Ökologie, Ernährung. Keller: Das sind gerade die Megathemen, die die Leute umtreiben. Zu Klima und Landwirtschaft kommen immer die Fragen, überall. Es gibt in Deutschland keine Veranstaltung, bei der die Landwirtschaft nicht im Zentrum steht. Da haben wir auch glaubwürdige Antworten, weil wir immer für eine ökologische Landwirtschaft und Artenschutz gekämpft haben.
Standard: Und Wirtschaft? Keller: Unser zweiter Schwerpunkt ist das soziale Europa. Wir wollen dafür sorgen, dass die nächste Stufe für eine soziale Politik gezündet wird. Wir wollen, dass soziale Mindeststandards eingehalten werden, in allen Ländern. Wir möchten Mindestlöhne, nicht für alle Länder die gleichen, aber sie müssen auf nationaler Ebene jeweils verbindlich gelten. Drittens: die Frage der Verteidigung der Demokratie. Da denke ich gar nicht so sehr an die europäische Ebene, auch wenn man dort viel ändern muss. Die größte Bedrohung für Freiheit und Demokratie geht von Mitgliedstaaten aus. Paradebeispiel ist Ungarn.
Standard: Was fehlt, was grüne Politik bisher stark dominierte, sind Steuerpolitik und Globalisierung ... Keller: Steuerpolitik ist uns wichtig im Komplex Soziales: Steuergerechtigkeit. Das haben wir in der letzten Legislaturperiode massiv vorangetrieben. Sonderausschüsse zu Steuerskandalen sind maßgeblich unserer Fraktion zu verdanken. Wir wollen Steuervermeidung bekämpfen, die Geldwäsche. Und wir wollen eine Digitalsteuer.
Standard: Was können die Grünen beim Klimaschutz bewirken? Keller: Unheimlich viel. Die Europäische Union muss Vorreiterin werden. Wer in der Welt soll es denn sonst tun? Und es ist klar, dass das auf der europäischen Ebene effizienter zu regeln ist, auch wenn die Kommunen und die Länder ihren Beitrag leisten müssen und können. Wir wollen, dass der CO2-Ausstoß einen Preis bekommt. Die Bepreisung wollen wir pro Kopf an die Bevölkerung zurückzahlen. Wir müssen das Kerosin besteuern. Und wir müssen das Nachtzügenetz ausbauen.
Standard: Alle EU-Steuerpläne sind seit zehn Jahren gescheitert. Warum soll die CO2-Steuer klappen? Keller: Es können Mitgliedstaaten auch vorangehen, wenn es auf EUEbene zunächst nicht klappt. Wir haben heute den Emissionshandel – er funktioniert aber nicht, weil so viele Zertifikate umsonst ausgegeben werden, sodass Unternehmen mit den kostenlos erhalaussprechen tenen Zertifikaten sogar Handel machen. Das ist absurd.
Standard: Eines der umstrittensten Themen ist: Demokratie und Werte. Was wollen Sie erreichen? Keller: Wir wollen ein unabhängiges Expertengremium, das sich ständig alle Mitgliedstaaten ansieht. Unabhängig deshalb, damit das nicht ständig von den Fraktionen politisiert wird. Dieses Gremium sollte Beurteilungen vornehmen, Empfehlungen, auch Sanktionen in Form von Geldstrafen können. Es müsste zum Beispiel die ungarische Regierung Geldstrafen in die EUKassen einzahlen.
Standard: Und sollen EU-Subventionen gekürzt werden können? Keller: Derzeit ist es so, dass die Kommission das EU-Geld an die nationalen Regierungen auszahlt, und die müssen es dann nach europäischen Kriterien weitervertreiben. Damit kann man viel Schlechtes machen. Sich zum Beispiel, wie Ungarns Premier, ein Fußballstadion ins Dorf stellen. Wir schlagen vor, dass die Kommission die Gelder direkt an Empfänger auszahlt, an eine Arbeitsloseninitiative in Ungarn oder die Staatsbibliothek in Warschau. Würde man die EU-Gelder ganz streichen, würde man die Bürgerinnen und Bürger bestrafen. Die können aber nichts dafür, wenn ihre Regierung Mist macht. Man soll die Regierungen bestrafen.
Standard: Man kann Programme nur umsetzen, wenn man an der Macht beteiligt ist. Wollen Sie Kommissionspräsidentin werden? Keller: Klar, aber wir wissen auch um die Mehrheiten. Wir bleiben auf dem Teppich. Wir haben den Anspruch, dass die Wahl eine Rolle spielt bei der Frage, wer Kommissionspräsident wird. Das kann nur jemand werden, der oder die eine Mehrheit im Parlament bekommt. Das ist eine Frage von Demokratie.
Standard: Die Liberalen haben ein Team statt Spitzenkandidaten, Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger fordert nun trotzdem, dass die dänische Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager Kommissionschefin wird. Wollen die Grünen nicht an die Macht?
Keller: Wir treten für unsere grünen Inhalte an, wie Klimaschutz, und die wollen wir umsetzen. Aber interessant, dass die NeosChefin das gesagt hat, weil Fraktionschef Guy Verhofstadt behauptet, die Alde-Gruppe habe gar keinen Spitzenkandidaten.
Standard: Der nächste Präsident wird direkt gewählt, dazu braucht es eine Mehrheit im Parlament, die EVP und Sozialdemokraten verlieren werden. Stehen die Grünen als dritter Koalitionspartner bereit? Keller: Für uns geht es um Inhalte. So gehen wir an Gespräche mit anderen Fraktionen heran. Da werden wir selbstbewusst für unsere Themen streiten. Wenn man uns nichts anbietet, sagen wir: Nein.
Standard: Können Sie sich einen Pakt mit EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber vorstellen?
Keller: Die Konservativen haben beim Klimaschutz überhaupt nichts vorgelegt. Sie haben ein Problem mit Herrn Orbán und der Abgrenzung nach rechts. Schauen Sie gerade nach Österreich. Da hätten wir schon sehr konkrete Fragen an Weber. Auch mit den Sozialdemokraten sind wir nicht immer einer Meinung. Da wollen wir dann Vorschläge sehen.
Standard: Bisher gilt eine Vereinbarung der Fraktionen, dass nur Präsident werden kann, wer Spitzenkandidat war. Gilt das für die Grünen weiterhin?
Keller: Ja.
Standard: Präsident Emmanuel Macron will das aushebeln. Keller: Für uns ist es eine Voraussetzung, dass die Ergebnisse einer Wahl bei der Wahl des Kommissionspräsidenten auch akzeptiert werden. Früher war es so, dass der Europäische Rat irgendjemanden aus dem Hut gezaubert hat, der sich nicht der Wahl stellte. Das wäre nicht in Ordnung, wenn die Regierungschefs jetzt sagen würden, die EU-Wahl interessiert uns nicht. Das wäre ein massiver Rückschritt bei der europäischen Demokratie.
Standard: Wenn Macron den niederländischen Premier Mark Rutte oder den belgischen Charles Michel aus dem Hut zöge, würden die Grünen dem nicht zustimmen. Keller: Ja, warum soll ich denn dem zustimmen, die haben sich nicht der Wahl gestellt. Für uns Grüne ist das zentral.
Standard: Wie sieht es mit Frans Timmermans aus? Es könnte sein, dass sich für ihn mit Macron, Liberalen, Linken, Grünen eine knappe Mehrheit im Parlament ausgeht. Keller: Das wäre genauso wie mit Weber. Wir wollen zuerst die Inhalte sehen. Wenn ich mir unsere Arbeit in den vergangenen Jahren anschaue, sehe ich, dass wir eher den Sozialdemokraten näherstehen – das ist kein Geheimnis. Aber wir werden auch in diesem Fall auf ganz konkrete Vorstellungen beim Klimaschutz drängen.
SKA KELLER (37) ist seit 2009 EU-Abgeordnete und seit 2014 Co-Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament. Sie studierte Islamwissenschaften und Judaistik. ➚ Langfassung: derStandard.at/EU
Die größte Bedrohung von Freiheit und Demokratie geht von den Mitgliedstaaten aus. Paradebeispiel ist Ungarn.