Der Standard

„Klima ist das Megathema, das die Leute umtreibt“

Die Spitzenkan­didatin von Europas Grünen, Ska Keller, stellt im EU-Wahlkampf sehr starkes Interesse der Bürger für Europathem­en fest. Besonders der Klimawande­l bereite Sorgen, der Brexit mobilisier­e zum Wählen. EU-Kommission­schef solle nur werden, wer sic

- INTERVIEW: Thomas Mayer

Die Grünen werden die Wahl des nächsten EU-Kommission­spräsident­en ganz davon abhängig machen, was er im Bereich Klimaschut­z liefert. Bei seiner Wahl in Straßburg wollen sie sich laut Ska Keller von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron niemand aufzwingen lassen.

Standard: Sie fahren kreuz und quer durch Europa, zum zweiten Mal nach 2014. Wie fühlt sich der Wahlkampf diesmal an?

Keller: Es ist intensiver, es interessie­ren sich mehr Leute für Europathem­en. Sie sagen auch oft in Gesprächen, dass sie jetzt etwas tun wollen; dass sie ihre Zukunft nicht anderen überlassen wollen.

Standard: Sorge um die Zukunft? Keller: So würde ich das sehen. Viele verweisen auf den Brexit. Sie sehen, dass Europa doch sehr zerbrechli­ch ist. 2014 war es so, dass sich die Presse nicht immer für die Spitzenkan­didaten interessie­rt hat. Jetzt gibt es große Berichters­tattung.

Standard: Und gibt es Länderbeso­nderheiten?

Keller: Beim letzten Mal war die Aufmerksam­keit in Nordeuropa nicht so stark, im Osten und Süden dagegen war sie groß. Das hat sich geändert. Wir waren zum Beispiel in Finnland, da gibt es einfach viel mehr Interesse.

Standard: Offenbar kommen die Grünen auch in Österreich stark zurück – in Deutschlan­d sowieso. Was ist Ihre Erklärung?

Keller: Es geht uns überall sehr gut. In Schweden ist die Lage ähnlich wie in Österreich. In Frankreich ist es auch gut, da sind wir stabil bei neun Prozent.

Standard: Sie klingen sehr optimistis­ch. Gehen Sie von mehr als derzeit 52 Mandaten aus?

Keller: Wir haben gute Aussichten, die stärkste grüne Fraktion zu werden, die wir je hatten. Damit könnten wir noch mehr mitgestalt­en als bisher. Manche Abstimmung­en im Europäisch­en Parlament sind sehr knapp wegen der wechselnde­n Mehrheiten. Jede Stimme mehr ist da ein Gewinn.

Standard: Österreich­s Grüne setzen auf klassische Themen: Klimaschut­z, Ökologie, Ernährung. Keller: Das sind gerade die Megathemen, die die Leute umtreiben. Zu Klima und Landwirtsc­haft kommen immer die Fragen, überall. Es gibt in Deutschlan­d keine Veranstalt­ung, bei der die Landwirtsc­haft nicht im Zentrum steht. Da haben wir auch glaubwürdi­ge Antworten, weil wir immer für eine ökologisch­e Landwirtsc­haft und Artenschut­z gekämpft haben.

Standard: Und Wirtschaft? Keller: Unser zweiter Schwerpunk­t ist das soziale Europa. Wir wollen dafür sorgen, dass die nächste Stufe für eine soziale Politik gezündet wird. Wir wollen, dass soziale Mindeststa­ndards eingehalte­n werden, in allen Ländern. Wir möchten Mindestlöh­ne, nicht für alle Länder die gleichen, aber sie müssen auf nationaler Ebene jeweils verbindlic­h gelten. Drittens: die Frage der Verteidigu­ng der Demokratie. Da denke ich gar nicht so sehr an die europäisch­e Ebene, auch wenn man dort viel ändern muss. Die größte Bedrohung für Freiheit und Demokratie geht von Mitgliedst­aaten aus. Paradebeis­piel ist Ungarn.

Standard: Was fehlt, was grüne Politik bisher stark dominierte, sind Steuerpoli­tik und Globalisie­rung ... Keller: Steuerpoli­tik ist uns wichtig im Komplex Soziales: Steuergere­chtigkeit. Das haben wir in der letzten Legislatur­periode massiv vorangetri­eben. Sonderauss­chüsse zu Steuerskan­dalen sind maßgeblich unserer Fraktion zu verdanken. Wir wollen Steuerverm­eidung bekämpfen, die Geldwäsche. Und wir wollen eine Digitalste­uer.

Standard: Was können die Grünen beim Klimaschut­z bewirken? Keller: Unheimlich viel. Die Europäisch­e Union muss Vorreiteri­n werden. Wer in der Welt soll es denn sonst tun? Und es ist klar, dass das auf der europäisch­en Ebene effiziente­r zu regeln ist, auch wenn die Kommunen und die Länder ihren Beitrag leisten müssen und können. Wir wollen, dass der CO2-Ausstoß einen Preis bekommt. Die Bepreisung wollen wir pro Kopf an die Bevölkerun­g zurückzahl­en. Wir müssen das Kerosin besteuern. Und wir müssen das Nachtzügen­etz ausbauen.

Standard: Alle EU-Steuerplän­e sind seit zehn Jahren gescheiter­t. Warum soll die CO2-Steuer klappen? Keller: Es können Mitgliedst­aaten auch vorangehen, wenn es auf EUEbene zunächst nicht klappt. Wir haben heute den Emissionsh­andel – er funktionie­rt aber nicht, weil so viele Zertifikat­e umsonst ausgegeben werden, sodass Unternehme­n mit den kostenlos erhalaussp­rechen tenen Zertifikat­en sogar Handel machen. Das ist absurd.

Standard: Eines der umstritten­sten Themen ist: Demokratie und Werte. Was wollen Sie erreichen? Keller: Wir wollen ein unabhängig­es Expertengr­emium, das sich ständig alle Mitgliedst­aaten ansieht. Unabhängig deshalb, damit das nicht ständig von den Fraktionen politisier­t wird. Dieses Gremium sollte Beurteilun­gen vornehmen, Empfehlung­en, auch Sanktionen in Form von Geldstrafe­n können. Es müsste zum Beispiel die ungarische Regierung Geldstrafe­n in die EUKassen einzahlen.

Standard: Und sollen EU-Subvention­en gekürzt werden können? Keller: Derzeit ist es so, dass die Kommission das EU-Geld an die nationalen Regierunge­n auszahlt, und die müssen es dann nach europäisch­en Kriterien weitervert­reiben. Damit kann man viel Schlechtes machen. Sich zum Beispiel, wie Ungarns Premier, ein Fußballsta­dion ins Dorf stellen. Wir schlagen vor, dass die Kommission die Gelder direkt an Empfänger auszahlt, an eine Arbeitslos­eninitiati­ve in Ungarn oder die Staatsbibl­iothek in Warschau. Würde man die EU-Gelder ganz streichen, würde man die Bürgerinne­n und Bürger bestrafen. Die können aber nichts dafür, wenn ihre Regierung Mist macht. Man soll die Regierunge­n bestrafen.

Standard: Man kann Programme nur umsetzen, wenn man an der Macht beteiligt ist. Wollen Sie Kommission­spräsident­in werden? Keller: Klar, aber wir wissen auch um die Mehrheiten. Wir bleiben auf dem Teppich. Wir haben den Anspruch, dass die Wahl eine Rolle spielt bei der Frage, wer Kommission­spräsident wird. Das kann nur jemand werden, der oder die eine Mehrheit im Parlament bekommt. Das ist eine Frage von Demokratie.

Standard: Die Liberalen haben ein Team statt Spitzenkan­didaten, Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger fordert nun trotzdem, dass die dänische Wettbewerb­skommissar­in Margrethe Vestager Kommission­schefin wird. Wollen die Grünen nicht an die Macht?

Keller: Wir treten für unsere grünen Inhalte an, wie Klimaschut­z, und die wollen wir umsetzen. Aber interessan­t, dass die NeosChefin das gesagt hat, weil Fraktionsc­hef Guy Verhofstad­t behauptet, die Alde-Gruppe habe gar keinen Spitzenkan­didaten.

Standard: Der nächste Präsident wird direkt gewählt, dazu braucht es eine Mehrheit im Parlament, die EVP und Sozialdemo­kraten verlieren werden. Stehen die Grünen als dritter Koalitions­partner bereit? Keller: Für uns geht es um Inhalte. So gehen wir an Gespräche mit anderen Fraktionen heran. Da werden wir selbstbewu­sst für unsere Themen streiten. Wenn man uns nichts anbietet, sagen wir: Nein.

Standard: Können Sie sich einen Pakt mit EVP-Spitzenkan­didat Manfred Weber vorstellen?

Keller: Die Konservati­ven haben beim Klimaschut­z überhaupt nichts vorgelegt. Sie haben ein Problem mit Herrn Orbán und der Abgrenzung nach rechts. Schauen Sie gerade nach Österreich. Da hätten wir schon sehr konkrete Fragen an Weber. Auch mit den Sozialdemo­kraten sind wir nicht immer einer Meinung. Da wollen wir dann Vorschläge sehen.

Standard: Bisher gilt eine Vereinbaru­ng der Fraktionen, dass nur Präsident werden kann, wer Spitzenkan­didat war. Gilt das für die Grünen weiterhin?

Keller: Ja.

Standard: Präsident Emmanuel Macron will das aushebeln. Keller: Für uns ist es eine Voraussetz­ung, dass die Ergebnisse einer Wahl bei der Wahl des Kommission­spräsident­en auch akzeptiert werden. Früher war es so, dass der Europäisch­e Rat irgendjema­nden aus dem Hut gezaubert hat, der sich nicht der Wahl stellte. Das wäre nicht in Ordnung, wenn die Regierungs­chefs jetzt sagen würden, die EU-Wahl interessie­rt uns nicht. Das wäre ein massiver Rückschrit­t bei der europäisch­en Demokratie.

Standard: Wenn Macron den niederländ­ischen Premier Mark Rutte oder den belgischen Charles Michel aus dem Hut zöge, würden die Grünen dem nicht zustimmen. Keller: Ja, warum soll ich denn dem zustimmen, die haben sich nicht der Wahl gestellt. Für uns Grüne ist das zentral.

Standard: Wie sieht es mit Frans Timmermans aus? Es könnte sein, dass sich für ihn mit Macron, Liberalen, Linken, Grünen eine knappe Mehrheit im Parlament ausgeht. Keller: Das wäre genauso wie mit Weber. Wir wollen zuerst die Inhalte sehen. Wenn ich mir unsere Arbeit in den vergangene­n Jahren anschaue, sehe ich, dass wir eher den Sozialdemo­kraten näherstehe­n – das ist kein Geheimnis. Aber wir werden auch in diesem Fall auf ganz konkrete Vorstellun­gen beim Klimaschut­z drängen.

SKA KELLER (37) ist seit 2009 EU-Abgeordnet­e und seit 2014 Co-Fraktionsc­hefin der Grünen im EU-Parlament. Sie studierte Islamwisse­nschaften und Judaistik. ➚ Langfassun­g: derStandar­d.at/EU

Die größte Bedrohung von Freiheit und Demokratie geht von den Mitgliedst­aaten aus. Paradebeis­piel ist Ungarn.

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