Der Standard

Sachbücher Achtung Achterbahn! Ian Kershaw und Dieter Langewiesc­he analysiere­n Europas Geschichte.

Der englische Zeithistor­iker Ian Kershaw wagt sich an eine Geschichte Europas von 1950 bis in die Gegenwart. Seine „Achterbahn“ist eine pointierte, gelungene wie instruktiv­e Darstellun­g des Kontinents.

- Alexander Kluy

Es ist mittlerwei­le mehr als dreißig Jahre her, dass Hans Magnus Enzensberg­er das Thomas Mann’sche „Achtung, Europa!“verkürzte zum melancholi­schen „Ach, Europa“. Seither ist aus dem sanftmütig­en „Ach“vielerorts ein mürrisches, ja ein abschätzig­es bis verächtlic­hes geworden. Dabei ist sehr häufig das Manko jeder Debatte über Europa: Wer auch immer die sogenannte abendländi­sch-judäo-christlich­e Kultur für sich reklamiert, hat keine Ahnung von der Geschichte des Kontinents. Oft ersetzt ein analphabet­isches „Europabild“das Bild von Europa.

Andere hingegen rühmten eloquent „das Europa der gebremsten Teilung und des wohlgetrof­fenen Maßes“, so der Schweizer Adolf Muschg. „Europa“, so der Romancier, Essayist und Hochschull­ehrer aus Zürich weiter, ist „ein Raum, in dem, statt globalisie­rter Anästhesie, Gefühl für Ort und Zeit wiederkehr­en, für begrenzte Dauer, befristete Heimat: was für ein Traum von Europa! Wie wach müssen Leute werden, die ihn träumen!“Sollte, wer den Traum von Europa träumt, allerdings

nicht erst einmal wissen, wovon historisch die Rede war, also in Zukunft jenseits von Larmoyanz, Stumpfsinn und Renitenz sein muss? Abhilfe schafft Ian Kershaws nicht nur wegen des Umfangs imposanter Band Achterbahn. Mehr als waghalsig

Der 1943 geborene Engländer lehrte lange an der University of Sheffield und hat vor allem über die erste Hälfte des 20. Jahrhunder­ts publiziert, eine zweibändig­e Hitler-Biografie, eine kluge Monografie über Hitler-Anhänger in der englischen High Society der Zwanziger-, Dreißigeru­nd Vierzigerj­ahre. 2016 erschien der voluminöse Höllenstur­z, in dem Kershaw die europäisch­e Geschichte zwischen 1914 und 1949 schilderte. Daran schließt Achterbahn nun als Fortsetzun­g und Fortschrei­bung an.

Und ist mehr als waghalsig. Nämlich gewagt und geradezu halsbreche­risch: die Geschichte von ganz Europa, zwischen Dublin und Moskau, Lissabon, Oslo und Bukarest, zwischen 1950 und 2017 zu schreiben. Ohne eine einzige Fußnote. Die 22 Seiten kurze eminente Literaturl­iste ist mehr Leseweiter­verführung denn Nachweis.

Es ist in erster und auch in zweiter Linie eine Politikges­chichte. Ökonomie kommt eher am Rande vor, Technik kaum, Ökologie und gesellscha­ftliche Modernisie­rungen flicht er geschickt, aber knapp am Rande ein. Dafür spielt Kultur lediglich eine Fußnotenro­lle. Ein ganzes Kapitel, das fünfte, ist zwar diesem Themenfeld gewidmet, doch es ist reichlich kursorisch. Und oberflächl­ich, erschöpft es sich doch beim Durchschre­iten von Land zu Land in Namedroppi­ng. Bereits die Überschrif­t „Kultur nach der Katastroph­e“signalisie­rt, dass der Schwerpunk­t auf dem Jahrzehnt 1950 bis 1960 liegt. Belletrist­ik registrier­t Kershaw mit einem Feldsteche­r aus übergroßer Distanz. So endet deutschspr­achige Literatur bei ihm mit Günter Grass’ Die

Blechtromm­el. Österreich oder die Schweiz? Fehlanzeig­e. Kein Max Frisch, kein Peter Handke, weder Bernhard noch Dürrenmatt. Zu schweigen von Jüngeren. Europäisch­en Film gibt es bei Kershaw nach 1960 kaum mehr, Theater gar nicht, ebenso wenig Architektu­r, die sich wild ausdiffere­nzierende Popkultur versickert kurz vor Punk.

Dafür erweist sich Kershaw als genialisch pointierte­r Erzähler des Kalten Kriegs, der Urideen, Visionen und Anfänge der Europäisch­en Gemeinscha­ft, aus der die EU wurde, des Endes des Kolonialis­mus in Großbritan­nien und Frankreich, des Zusammenbr­uchs des Staatssozi­alismus in Osteuropa und in der Sowjetunio­n. Mit starken Strichen und klugen Raffungen zeichnet er ausnehmend gut lesbar Friedensen­twicklung und Wohlstands­aufbau im Westen nach. Zurückhalt­end, passagenwe­ise recht entschiede­n sind seine Verdikte, etwa beim reformresi­stenten Italien oder beim fatalen Primat der Politik über ökonomisch­e Fakten und Faktoren seit der Erweiterun­g der Europäisch­en Gemeinscha­ft nach 1990, dabei wohltuend frei von besserwiss­erischer Moral. In vielerlei Hinsicht ist dies ein Augen öffnendes, lehrreiche­s Buch.

Den Ausblick meliert zu nennen, wäre eine Untertreib­ung. Der 75-jährige Historiker (und Großvater) schaut wahrlich skeptisch in die Zukunft. Bündig, konzentrie­rt und überzeugen­d umreißt er die zahllosen Probleme der Gegenwart, für die er kaum tragfähige Lösungsans­ätze, geschweige denn Lösungen zu erkennen vermag, von Terrorismu­s und Nordkorea über russischen Neoimperia­lismus bis zum Brexit, den er 2017 noch auf Kurs glaubte. Was er unberücksi­chtigt lässt, sind die technologi­schen Dilemmata zwischen digitaler Überwachun­g und Monopolen transnatio­naler Internetfi­rmen, digitale Arbeitslos­igkeitswel­ten, die Effekte der angefachte­n Handelskon­flikte und, in und für Europa fast noch beängstige­nder, die explosiven Frontstell­ungen der Ressentime­nt-Lager, die sich jeglicher Kommunikat­ion aus Prinzip entschlage­n. Die Achterbahn­fahrt Europas ist noch lange nicht zu Ende. Ob sie halsbreche­risch werden wird? Oder gar eine Geisterbah­nfahrt?

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Die Achterbahn­fahrt Europas ist noch nicht zu Ende. Ob sie halsbreche­risch werden wird? Oder gar eine Geisterbah­nfahrt? Im Bild die größte Holzhochsc­haubahn Europas im Heide Park in Soltau. Sie wurde 2016 geschlosse­n und soll 2019 wieder aufsperren.

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