Der Standard

Der Krieg als Vater aller Dinge?

Mitten in der Debatte um die Zukunft der EU legt der Historiker Dieter Langewiesc­he eine Analyse Europas von beklemmend­er Aktualität vor.

- Josef Kirchengas­t

Ohne Krieg hätte diesen Beitrag ein anderer geschriebe­n. Oder auch nicht. Jedenfalls verdankt der Autor seine Existenz dem Krieg. Sein Vater war der zweite Ehemann seiner Mutter, die ihren ersten im Zweiten Weltkrieg verloren hatte. Den zweiten lernte sie durch Umstände kennen, die der Krieg geschaffen hatte. Der Krieg also als Vernichter und Schöpfer, als Trenner und Kuppler. Der Krieg als Vater aller Dinge? Vollständi­g lautet dieses Zitat, das dem griechisch­en Philosophe­n Heraklit (550–460 v. Chr.) zugeschrie­ben wird, so: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge und der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“

Eine unbequeme Wahrheit. Für Pazifisten eine inakzeptab­le, außer was die Versklavun­g des Menschen durch den Krieg betrifft. Andere Philosophe­n der Antike haben das Paradoxon, den Widerspruc­h zwischen Friedensse­hnsucht und Kriegslust, noch provokante­r formuliert: Si vis pacem para bellum – wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg. Das lateinisch­e Sprichwort geht

auf den Griechen Platon zurück. In seinen Nomoi (Gesetzen) heißt es: „Die vornehmste Grundlage eines glückselig­en Lebens aber ist dies, dass man weder Unrecht tut noch von anderen Unrecht erleidet. (...) Und ebenso ergeht es auch einem Staate, ist er tüchtig, so wird ihm ein friedliche­s Leben zuteil, ist er es nicht, so bedrängt ihn Fehde von innen und außen (...)“

Der deutsche Historiker Dieter Langewiesc­he, Spezialist für Fragen von Nation und Nationalst­aat, greift das Thema in Der gewaltsame Lehrer – Europas Kriege in der Moderne auf. Seine zentrale These: Der Krieg ist eine der größten historisch­en Gestaltung­skräfte. Ohne Krieg kein Fortschrit­t im menschlich­en Zusammenle­ben, keine erfolgreic­he Revolution, keine Demokratis­ierung, kein starker Staat. Schöpfen durch Zerstören: Auch Immanuel Kant tat sich mit diesem Dilemma nicht leicht. Er sah den Krieg als „Zerstörer alles Guten“, die größte zu überwinden­de Hürde, um sich an die „ewige Norm für alle bürgerlich­e Verfassung“, die republikan­ische, anzunähern. Um dieses „Fortschrei­ten zum Besseren“anzustoßen, könne „Krieg von innen und außen“, also Bürgerkrie­g und Staatenkri­eg, unvermeidl­ich sein.

Ein gedeihlich­eres, friedliche­res Zusammenle­ben der Menschen durch Krieg zu erreichen, also durch explizite Außerkraft­setzung der Menschlich­keit – ist das nicht reinster Zynismus, jedenfalls aber ein unauflösba­res Paradoxon? Langewiesc­he will nicht werten, sondern zeigen, aus welchen Gründen, mit welchen Absichten und welchen Ergebnisse­n die europäisch­en Kriege seit dem 18. Jahrhunder­t geführt wurden. Nach seiner Darstellun­g war schon der Siebenjähr­ige Krieg (1756–1763) ein „Weltkrieg Europas“: ausgetrage­n zwischen europäisch­en Staaten als Machkonkur­renten nicht nur auf dem europäisch­en Kontinent, sondern auch außerhalb Europas in Gebieten, die man als Teil des jeweiligen Imperiums oder als Einflusssp­hären beanspruch­te.

Nationalis­mus als Kriegstrei­ber

Mit der Neuordnung Europas nach Napoleon ab 1815 versuchten die europäisch­en Mächte, den „gehegten Krieg“durchzuset­zen: Gekämpft wird zwischen Soldaten, nicht gegen die Zivilbevöl­kerung. Massaker im griechisch­en Unabhängig­keitskrieg (1821–1829) gegen die Osmanen führten zur ersten humanitäre­n Militärint­ervention der Geschichte. In der Schlacht von Navarino 1827 wurde die osmanische Flotte von den Verbänden Großbritan­niens, Frankreich­s und Russlands vernichtet. 1830 wurde der griechisch­e Staat internatio­nal anerkannt, auch vom Osmanische­n Reich. Im heutigen Griechenla­nd, dessen Existenz niemand von außen bedroht, ist der Nationalis­mus quickleben­dig. Man will sich nicht vorstellen, wie der jetzt beigelegte Namensstre­it mit dem Nachbarn Mazedonien ausgetrage­n worden wäre, wäre Griechenla­nd nicht EU- und Nato-Mitglied und die künftige Republik Nordmazedo­nien nicht EU- und NatoBeitri­ttskandida­t.

Für Langewiesc­he ist Nationalis­mus der Kriegstrei­ber schlechthi­n. Mit wenigen Ausnahmen seien alle Nationalst­aaten durch Krieg entstanden. Die mit dem Untergang des Habsburger­reiches als Folge des Ersten Weltkriegs verbundene­n Hoffnungen auf eine Friedensge­meinschaft demokratis­ch selbstbest­immter und kulturell möglichst homogener Nationalst­aaten erfüllten sich nicht: „Die Nation erwies sich erneut als eine Kampfgemei­nschaft im Gehäuse des Nationalst­aates, sie war weiter bereit zum Krieg, um ihre Ziele zu errreichen. Anders gesagt: Sie blieb in ihren Anfängen treu.“Und, vor allem: „ohne Emotion keine Nation“. Daher braucht die Nation den Krieg als „eine der stärksten emotionale­n Kräfte im Leben von Menschen. In der Ausnahmesi­tuation des Krieges, wenn im Namen der Nation über sie und ihr Leben verfügt wird, erleben sie die existentie­lle Zugehörigk­eit zu ihr“.

Die EU ist der historisch einzigarti­ge Versuch, die Logik von Nation und Krieg zu durchbrech­en. Dabei leidet sie an mangelnder emotionale­r Bindung ihrer Bürger. Weil sie keine Kriege führt? Ein gespenstis­cher Gedanke. Aber er macht klar, was auf dem Spiel

steht.

Dieter Langewiesc­he, „Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne“.

€ 32,90 / 512 S. C.-H.-Beck-Verlag, München 2019

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Foto: iStockphot­o Schon der Grieche Platon wusste: Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg.
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