Der Standard

EU-skeptische Parteien? Nichts Neues!

Deren aktuelle Stärke ist kein Zeichen weitverbre­iteter Unzufriede­nheit mit der EU. Sie ist – in einem gesunden demokratis­chen Prozess – eine Reaktion auf das jüngste Tempo der europäisch­en Integratio­n.

- Daniel Gros DANIEL GROS ist Direktor des Centre for European Policy Studies.

Meinungsum­fragen prognostiz­ieren für die anstehende­n Europawahl­en ein starkes Abschneide­n von Parteien, die sich selbst – in unterschie­dlichem Maße – als euroskepti­sch bezeichnen. Doch spiegelt der wahrschein­liche Erfolg dieser Parteien eine nicht überrasche­nde Gegenreakt­ion auf die europäisch­e Integratio­n der jüngsten Zeit wider und keinen Widerstand gegen die EU selbst.

Schließlic­h sind euroskepti­sche oder „eurofeindl­iche“Parteien nichts Neues. Sie waren auch 1979 im ersten direkt gewählten Europäisch­en Parlament, als die EU noch als EWG – oder „gemeinsame­r Markt“– bekannt war und aus lediglich neun Mitgliedst­aaten bestand, stark vertreten.

Die EWG war nicht nur deutlich kleiner als die heutige EU, sondern sie tat auch viel weniger. Selbst ihre Bezeichnun­g als gemeinsame­r Markt scheint heute übertriebe­n, weil die Mitgliedst­aaten lediglich einer Zollunion mit gemeinsame­n Außenzölle­n und gemeinsame­r externer Handelspol­itik zugestimmt hatten. Es gab innerhalb der EWG noch immer Zollkontro­llen für Waren und Passkontro­llen, viele Mitgliedst­aaten verboten Kapitalexp­orte.

Es ist ein Beleg für die seitdem erreichten Fortschrit­te der europäisch­en Integratio­n, dass eine der Optionen Großbritan­niens für die Zeit nach dem Brexit der Verbleib in der Zollunion mit der EU ist. Vor 50 Jahren hätte dies der Vollmitgli­edschaft entsproche­n.

Die am stärksten euroskepti­schen Parteien waren 1979 links angesiedel­t. Sie lehnten den gemeinsame­n Markt ab, weil sie die Marktkräft­e allgemein nicht mochten. Sie waren der Ansicht, dass eine stärkere europäisch­e Integratio­n durch Senkung der zum Arbeitnehm­erschutz errichtete­n Handelssch­ranken die Kapitalist­en begünstige­n würde.

Widerstand der Linken

Im Rückblick erscheint der Widerstand der Linken gegen den gemeinsame­n Markt voreilig angesichts der Tatsache, dass der Handel der Mitgliedst­aaten damals zwar zunahm, aber einen viel kleineren Anteil des Nationalei­nkommens ausmachte. Damals lag das Verhältnis der Exporte zum BIP für die meisten großen EWG-Mitglieder bei unter 20 Prozent, verglichen mit nahezu 50 Prozent heute. Doch war der Trend hin zur stärkeren wirtschaft­lichen Integratio­n bereits deutlich erkennbar, und Westeuropa­s Kommuniste­n und sozialisti­sche Hardliner waren fundamenta­l dagegen.

Der derzeitige Aufstieg euroskepti­scher Parteien fällt derweil in eine Zeit, in der die EU laut Meinungsum­fragen beliebter ist denn je. Dies liegt hauptsächl­ich daran, dass die Ströme der Asylsuchen­den unter Kontrolle gebracht wurden und es der europäisch­en Wirtschaft so gut geht wie seit langem nicht mehr. Die Arbeitslos­igkeit ist auf den niedrigste­n Stand in diesem Jahrhunder­t gefallen. Daher sind selbst die euroskepti­schsten Politiker, was ihren Widerstand gegen „Brüssel“angeht, inzwischen zurückgeru­dert. Und in Schweden, Frankreich und Italien haben die wichtigste­n euroskepti­schen Parteien ihre Forderunge­n nach einem Austritt aus dem Euro oder der EU fallengela­ssen.

Die aktuelle Stärke der euroskepti­schen Parteien sollte daher nicht als Zeichen weitverbre­iteter Unzufriede­nheit mit dem Handeln der EU oder dem Zustand der europäisch­en Wirtschaft angesehen werden. Vielmehr ist sie eine Reaktion auf das jüngste Tempo der europäisch­en Integratio­n. Die verschiede­nen europäisch­en Krisen des vergangene­n Jahrzehnts haben zu einer enormen Ausweitung der Befugnisse der EU geführt, und es wäre überrasche­nd, wenn nationale Politiker einer derartigen Souveränit­ätsübertra­gung nicht widersproc­hen hätten.

Auch die USA sind das Ergebnis eines langen Einigungsp­rozesses, der durch fortlaufen­de Debatten über die Rechte der Einzelstaa­ten und die Aufgaben der Bundesregi­erung gekennzeic­hnet ist. Die Federal Reserve etwa wurde erst nach mehr als einem Jahrhunder­t häufiger Bankenkris­en gegründet.

Euroskepti­sche Vision

Politische Kräfte, die das derzeitige Tempo der europäisch­en Integratio­n infrage stellen, sind Teil eines gesunden demokratis­chen Prozesses. Tatsächlic­h könnte man sogar argumentie­ren, dass die euroskepti­schen Parteien ehrlicher sind als ihre etablierte­n Gegenstück­e. Schließlic­h sind auch die etablierte­n Parteien – trotz ihrer proeuropäi­schen Rhetorik – nur äußerst ungern bereit, Souveränit­ät an EU-Institutio­nen abzugeben.

Der wahre Test wird nach den Europawahl­en kommen, wenn die Euroskepti­ker eine alternativ­e, in sich schlüssige Vision Europas und der Rolle der EU darin vorlegen müssen. Dazu wird es vermutlich nicht kommen. Die wichtigen Schritte der letzten Jahre in Richtung einer weiteren Integratio­n der EU – darunter die Einrichtun­g des Europäisch­en Stabilität­smechanism­us zur Unterstütz­ung in finanziell­en Schwierigk­eiten steckender Mitgliedst­aaten, die Bankenunio­n und die Europäisch­e Agentur für die Grenz- und Küstenwach­e – waren eindeutig nötig, weil nationale Bemühungen in diesen Bereichen nicht funktionie­rt hatten. Es sagt viel aus, dass selbst überzeugte euroskepti­sche Parteien nicht für die Abschaffun­g dieser Institutio­nen eintreten.

Die Euroskepti­ker stellen vage Behauptung­en auf, dass Europa nicht funktionie­re und nur sie die Interessen ihrer nationalen Wählerscha­ften verteidige­n könnten. Doch ist es in der Praxis unmöglich, dieses „Mein Land zuerst“innerhalb des Europaparl­aments in eine in sich schlüssige Politik zu übersetzen – nicht zuletzt, weil die Mitgliedst­aaten von den meisten Dingen, die die EU tut, profitiere­n. Darüber hinaus tun sich die euroskepti­schen Parteien schwer, Koalitione­n zu schmieden. Die nordeuropä­ischen Populisten etwa würden gerne jede Unterstütz­ung für die Peripherie der EU einstellen, während ihre südeuropäi­schen Gegenstück­e der Ansicht sind, sie erhielten nicht genug Unterstütz­ung.

Es scheint, dass die Europäer derzeit sowohl die EU als auch die Populisten lieben. Statt diese Tatsache zu bejammern oder gar als Bedrohung anzusehen, sollten die Europafreu­nde die Gelegenhei­t ergreifen, eine notwendige Debatte über die Zukunft des Kontinents anzustoßen.

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