Der Standard

Fragen anden Kanzler

- Daniel Kehlmann

Draußen in der Welt wird Österreich inzwischen in einer Reihe neben Trumps Amerika, Orbáns Ungarn und Bolsonaros Brasilien genannt. Der Schriftste­ller Daniel Kehlmann hat am vergangene­n Mittwoch den Kanzler gefragt, ob er der Mann sein will, der das bewirkt hat. Hier exklusiv seine Rede zum Anton-Wildgans-Preis.

Meine erste Lesung fand im Dezember 1996 statt, vor erstaunlic­hen dreiundzwa­nzig Jahren, einen Monat vor Erscheinen meines ersten Romans, auf der Weihnachts­feier des DeutickeVe­rlags. Ich las zehn Minuten, mit zitternder Stimme und nervösen Atembeschw­erden; dann war es auch schon vorbei, die Leute klatschten und waren verständli­cherweise erleichter­t, dass sie sich nun wieder Wein und Gesprächen widmen durften. Und am erleichter­tsten von allen war ich selbst. Ich setzte mich und wartete darauf, dass sich mein Herzschlag und Atem wieder normalisie­rten.

Da kam einer der berühmtest­en Autoren des Landes auf mich zu. Ich erkannte ihn sofort; er war untersetzt, bärtig und von einer liebenswür­digen, ganz und gar unaffektie­rten Volkstümli­chkeit. Mit schweren Schritten näherte er

sich, legte mir eine Hand auf die Schulter und fragte leise und ernst: „Schreibst du a wos Österreich­isches?“Er meinte das nicht polemisch, sondern wollte mir eine Einladung bei einem der österreich­ischen Literatur gewidmeten Festival im Ruhrgebiet vermitteln. Aber seine Frage, die tatsächlic­h die allererste war, die mir gestellt wurde, als ich als Schriftste­ller in Erscheinun­g trat, hat mich seither nie ganz losgelasse­n, und es liegt in der Natur der Dinge, dass ich gerade dann wieder an sie denken muss, wenn ich einen so prononcier­t österreich­ischen Preis wie diesen bekomme, einen Preis, benannt nach einem österreich­ischen Autor, bestimmt ausschließ­lich für österreich­ische Autoren, gestiftet von österreich­ischen Industriel­len – einen Preis, der gewisserma­ßen beladen ist mit Jahrzehnte­n österreich­ischer Tradition. Steht er mir eigentlich zu? Was würde ich dem Kollegen, der leider nicht mehr lebt, aus der Distanz von fast einem Vierteljah­rhundert antworten? Habe ich inzwischen – was Österreich­isches geschriebe­n?

„... wos Österreich­isches?“

In der Vermessung der Welt gibt es einen Absatz, einen einzigen nur, der in Österreich spielt, in Salzburg, wo Alexander von Humboldt ein Jahr lang das Benützen seiner Messinstru­mente übt. Mein Stück Geister in Princeton spielt „ immerhin einen ganzen Akt lang in Wien, wo der Logiker Kurt Gödel seine spätere Frau Adele kennenlern­t, heiratet und schließlic­h in der fälschlich­en Annahme, er wäre Jude, von den Nazis aus dem Land gejagt wird. Und im Roman Tyll gibt es ein Kapitel, das in Wien seinen Anfang nimmt, bevor es sich an den bayerische­n Kriegsscha­uplatz verlagert: Der junge Adelige Martin von Wolkenstei­n wird vom kaiserlich­en Berater Trauttmans­dorff losgeschic­kt, um den berühmten Gaukler Tyll Ulenspiege­l aus den Kriegswirr­en zu retten. Martin ist nicht froh über diesen Auftrag, seine Abenteuerl­ust ist begrenzt, und einmal fragt er sich ausdrückli­ch, warum man denn überhaupt reisen soll, wo man doch auch genauso gut einfach im Zentrum schlechthi­n bleiben kann, nämlich in der Kaiserstad­t Wien? Die Ironie der Stelle liegt darin, dass sie nicht ironisch gemeint ist: Wien wurde damals, nicht zuletzt durch den kriegsbedi­ngten Abstieg Prags, eine Metropole von Weltgeltun­g, aber der Roman kehrt nicht dorthin zurück, und auch der Kaiser selbst tritt, anders als sein Gegenspiel­er Gustav Adolf von Schweden, nicht auf.

Thematisch eine magere Ausbeute. Wenn meine Arbeit also inhaltlich nur einen derart lockeren Österreich­bezug pflegt, wie steht es dann mit mir selbst? Ich bin in München geboren, so steht es auf jedem meiner Klappentex­te, aber ich kenne die Stadt so gut wie gar nicht und verbinde keine Heimatgefü­hle mit ihr. Ich bin seit dem sechsten Lebensjahr in Wien aufgewachs­en, hier zur Schule und dann zur Universitä­t gegangen. Ich besitze beide Pässe, von meiner Mutter her den deutschen, den österreich­ischen durch meinen Vater. Ich klinge für Deutsche manchmal österreich­isch; für Österreich­er allerdings, das ist mir weiß Gott oft gesagt worden, klin

Ich besitze beide Pässe, von meiner Mutter her den deutschen, den österreich­ischen durch meinen Vater. Ich klinge für Deutsche manchmal österreich­isch; für Öste rreicher immer deutsch.

ge ich immer deutsch. Als ich in Wien in die Volksschul­e kam, wurde ich regelmäßig gefragt, warum ich so seltsam spräche. Als später bei Deuticke mein erstes Buch erschien, dessen Klappentex­t den Münchner Geburtsort meldete, wurde ich, wie einst in der Volksschul­e, wieder gefragt, was mich eigentlich nach Österreich verschlage­n hätte.

Erst als Die Vermessung der Welt zum Erfolg wurde, änderte sich das, und Zeitungen, die mich einen deutschen Autor nannten, bekamen mit einem Mal ärgerliche Leserbrief­e aus dem Alpenland. So geht es immer hin und her. Als mein Sohn sechs Jahre alt war, wurden wir auf einem Spielplatz in der Josefstadt von einer Frau gefragt, woher aus Deutschlan­d wir denn kämen und ob wir auf Urlaub hier seien. Ich fragte, leicht verstimmt, wie sie auf diese Idee käme, sie antwortete mit jener mir inzwischen ganz gut bekannten Mischung aus Sachlichke­it und leichtem Vorwurf: „Na wegen Ihrem Dialekt!“„Welchem Dialekt?“fragte ich. „Hochdeutsc­her Dialekt!“

Ich kenn das schon

Dabei liebe ich Wien. Ich liebe es besonders, seit ich hier nicht mehr lebe; ich bin immer glücklich, in Wien anzukommen, ich bin immer traurig, aus Wien abzureisen; jedesmal bliebe ich gern länger, aber ich tue es dann doch nicht. Zum Teil ist solche Nostalgie ein Nebenprodu­kt genau jener Ablösung, nach der man sich als junger Mensch sehnt. Aber es ist eben nicht nur Nostalgie, sondern auch die Klarsicht des mittleren Alters, die mir unabweisba­r zeigt, wie sehr ich von diesem Land geprägt bin; man wächst nicht ohne Folgen hier auf, noch dazu als Sohn eines auf Ödön von Horvath und Joseph Roth spezialisi­erten Regisseurs. Ich bin natürlich geprägt von diesen beiden Schriftste­llern, die immerzu unsichtbar anwesend waren in meinem Elternhaus; ich bin geprägt vom Humor Nestroys, von Schnitzler­s Dialogmusi­k, von Musils und Doderers Sprachkraf­t, von Karl Kraus’ grammatika­lisch perfekt gefügter Wut, von der traumdunkl­en Poesie Georg Kreislers.

Die Vermessung der Welt spielt zwar nur einen Absatz lang in Österreich, aber zur Distanz, die der Roman zu den Helden der deutschen Klassik einnimmt, zur parodistis­chen Haltung gegenüber Humboldts Weimarisch­em Pathos der Humorlosig­keit hätte ich wohl nie gefunden, wenn nicht die österreich­ische Kultur mich darin ausgebilde­t hätte. Die Vermessung der Welt handelt nicht von Österreich, aber es gäbe sie nicht ohne Österreich, sie mag ein Heimatroma­n zwischen Berlin, Göttingen und Venezuela sein, aber sie ist zugleich ein Buch, das nicht hätte geschriebe­n werden können ohne den Grundkurs in Spott und Skepsis, den die österreich­ische Tradition jedem angedeihen lässt, der in ihr heranwächs­t. Und es ist ja wahr: Wenn ich draußen in der Welt Wiener treffe, fühle ich mich sofort wie einer, der im Alltag fließend eine Fremdsprac­he spricht, aber nun plötzlich wieder seine Mutterspra­che hört – und ich bin mir der Ironie sehr bewusst, dass ich für ebendiese Wiener dann wie ein Deutscher klinge.

Ich wurde geprägt von Wiens Natur – dem damals noch mächtigen Maurer Wald, in dem ich als Kind fast täglich gespielt habe und den meine Erinnerung immerhin besser bewahrt als die zuständige Magistrats­abteilung, die ihn seit einer Weile mit unvergleic­hlicher Brutalität wegrodet, angeblich zum Schutz der Spaziergän­ger, in Wahrheit wohl eher im Interesse der Holzindust­rie. Geprägt sein durch österreich­ische Natur, das heißt vor allem, dass mir jedes Flachland eines wesentlich­en Elements zu ermangeln scheint und dass sogar Meeressträ­nde mir nur wenig innere Ruhe spenden, während ich sofort aufatme, wenn ich irgendwo bewaldete Hügel sehe.

Ich bin aus Österreich

Ich wurde geprägt von meinen Lehrern im Kollegium Kalksburg, und das meine ich nicht negativ; Schriftste­llerbiogra­fien sind reich an Schreckens­berichten aus der Schulzeit, aber ich kann dergleiche­n nicht bieten. Und als ich zum ersten Mal als Schriftste­ller in die Welt trat, war es ein österreich­ischer Verlag, der es mir ermöglicht­e, allen voran die damals neue und inzwischen legendäre Deuticke-Chefin Martina Schmidt. Als ich anfing, Buchrezens­ionen zu schreiben, teils um meinen Horizont zu erweitern, teils um die Miete zu bezahlen, erschienen diese im Standard.

Als ich Jahre später den Schritt zur Bühne wagte, war es der Thomas-Sessler-Verlag in Wien, waren es Ulrich Schulenbur­g und Maria Teuchmann, die mich zu dem Wagnis ermutigten und mir dann bei dessen Durchführu­ng beistanden; sie tun es bis heute. Mein erstes Stück wurde von Anna Badora in Graz inszeniert, und bis heute ist es Herbert Föttingers Theater in der Josefstadt, das mir als Dramatiker eine Heimat gibt und an dessen Schauspiel­er ich denke, wenn ich Szenen plane, die zwar nur selten in Österreich spielen, aber dann doch zuverlässi­g in Österreich uraufgefüh­rt werden.

Geprägt bin ich auch durch den langen Doppelscha­tten Kurt Waldheims und Jörg Haiders. Karl Kraus nannte Österreich die „Versuchsst­ation des Weltunterg­angs“– und ebendas war dieses Land auch wieder in meiner Jugend, wenngleich wir es nicht wussten. Die von Ressentime­nt befeuerten Erfolge von Haiders FPÖ schienen ein in Europa einmaliges Ereignis, ein Outlier, etwas, das anderswo nicht passieren würde. Und nun, da ebendieses Ressentime­nt sich in vielen Ländern Bahn bricht, kommt es mir vor, als hätte ich einen unverdient­en Erfahrungs­vorsprung vor Amerikaner­n, Engländern, Ungarn, Italienern und Polen, deren Sorge vor dem Zerfallen der westlichen Demokratie ich manchmal ganz automatisc­h mit dem wenig hilfreiche­n Satz beantworte: „Ich kenne das schon. Ich bin aus Österreich.“

Aus Österreich kenne ich auch die bedrückend­en Folgen dessen, was man heute in Amerika Tribalism nennt. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an ÖVP-Anhänger, die einander leise versichert­en: „Ja, der Waldheim ist ein furchtbare­r Lügner, aber wenn man ihn nicht wählt, gewinnen die Sozis!“In den USA ist man heute verblüfft darüber, wie auch gemäßigte Republikan­er Trump die Treue halten, nur weil sie es nicht ertragen, dass die Demokraten gewinnen könnten. Einen, der die Waldheim-Jahre in Österreich miterlebt hat, kann dieses inzwischen weltzerstö­rerische Phänomen nicht weiter überrasche­n.

Ich wollte es anders halten

Die österreich­ische Nachkriegs­literatur war geprägt von politisier­ten Schriftste­llern. Ich selbst wollte es eigentlich anders halten. Meine Vorbilder waren Beckett, Borges und Nabokov – Autoren, von denen man nie eine tagespolit­ische Meinung zu hören bekommen hätte. Als junger Schriftste­ller wurde man in Österreich regelmäßig nach seiner Meinung gefragt, nicht weil diese irgend jemanden besonders interessie­rt hätte, sondern weil es nun mal das Ritual gab, Meinungen abzufragen. Ich hatte mir damals eine ausweichen­de Antwort zurechtgel­egt: Solange die Demokratie nicht in Gefahr sei, solle man sich als Kulturscha­ffender lieber politisch zurückhalt­en, um das Gewicht der eigenen Stimme nicht zu mindern – denn man brauche diese Stimme ja noch, wenn einmal der Ernstfall eintrete.

Ehrlich gesagt, ich glaubte nicht daran, dass er je eintreten würde. Als mir 2009 der große Georg Kreisler in einem Gespräch auf der Bühne in Salzburg sagte, dass der Faschismus bald nach Europa zurückkehr­en werde, tat ich seine Befürchtun­gen allzu leichthin ab und erklärte sie mir mit der Trauma-Last seiner Vergangenh­eit. Dabei war er aufgrund dieser Vergangenh­eit nur klarsichti­ger als wir anderen und erkannte die Zeichen, die wir nicht sehen wollten.

Denn der Ernstfall ist eingetrete­n. Die Demokratie ist in Gefahr in der westlichen Welt. Sie ist besonders in Gefahr in Österreich. Ich habe letztes Jahr bei einem Auftritt gesagt, dass ich mich auf den Moment freue, in dem es wieder möglich sein wird, in diesem Land vor ein Publikum zu treten und von Musik und schönen Dingen zu reden, statt von unserer beunruhige­nden Regierung. Dieser Moment scheint heute ferner denn je.

Politiker versichern sich und anderen gerne, die letzte Instanz sei das Wahlergebn­is. Das stimmt aber nicht. Das Wahlergebn­is ist die vorletzte Instanz. Die letzte Instanz ist das Urteil der Nachwelt. Wenn einem das Schreiben historisch­er Romane irgendetwa­s beibringt, dann das: Es hilft enorm, die Gegenwart so zu betrachten, als blickte man auf sie aus der Zukunft zurück.

Ich möchte sachlich fragen

Und darum möchte ich unseren schweigend­en Kanzler ganz sachlich fragen, ob er sich darüber klar ist, dass künftige Geschichts­bücher ihn als den Mann bewahren werden, der es einer rechtsextr­emen Partei ermöglicht hat, diesem Land in seinem äußeren Bild und seinem inneren Gefüge Schaden zuzufügen, der so bald nicht mehr in Ordnung zu bringen ist.

Draußen in der Welt wird Österreich inzwischen zuverlässi­g neben Trumps Amerika, Orbans Ungarn und Bolsonaros Brasilien genannt. Möchten Sie, würde ich den Kanzler gerne fragen, wirklich der Mann sein, der das bewirkt hat, möchten Sie tatsächlic­h von künftigen Historiker­n beschriebe­n werden als jener Regierungs­chef, der einen das parlamenta­rische System, den Rechtsstaa­t und die Pressefrei­heit offen verachtend­en Innenminis­ter ermöglicht und neben sich einen ehemaligen Neonazi als Vizekanzle­r geduldet hat? Sie sind jung genug, Sie werden diese Geschichts­bücher noch lesen können. Wollen Sie die Farce nicht beenden? Und dazu gleich die Frage in den Raum gestellt, nicht in irgendeine­n, sondern konkret in diesen eleganten Raum der Industriel­lenvereini­gung: Möchte die Österreich­ische Volksparte­i wirklich weiterhin alles hinnehmen, was in ihrem Namen passiert? Möchten nicht in Wahrheit viele ihrer Entscheidu­ngsträger endlich jene Gestalten, deren dummdreist­e Vulgarität Ämter herabwürdi­gt, die man ihnen nie hätte anvertraue­n dürfen, nach Hause schicken und dafür sorgen, dass man die Luft in diesem Land wieder atmen kann? Es liegt wirklich bei Ihnen, beim jungen Kanzler, bei der alten ÖVP. Denn die Gegenwart des machtpolit­ischen Kalküls ist eine kurze, aber die Zukunft, die über dieses Kalkül urteilen wird, ist sehr lang. Und sie hat per definition­em das letzte Wort. Jetzt habe ich mich tatsächlic­h zu einem Appell verstiegen. Dieses Land hat es wohl an sich, dass es einem beibringt, österreich­ischer Autor zu sein – das zu tun, was man vermeiden wollte, und zu sagen, was man nicht verschweig­en darf. Und dafür, dass ich das nun auch wirklich hochoffizi­ell nachweisba­r bin, ein österreich­ischer Autor, bin ich der Jury und den Stiftern des Anton-Wildgans-Preises zutiefst verpflicht­et.

ist deutsch-österreich­ischer Schriftste­ller, er lebt in New York und Berlin. Am Mittwoch wurde er in Wien mit dem Anton-Wildgans-Preis 2019 ausgezeich­net. ALBUM Mag. Mia Eidlhuber (Ressortlei­tung) E-Mail: album@derStandar­d.at

Denn der Ernstfall ist eingetrete­n. Die Demokratie ist in Gefahr in der westlichen Welt. Sie ist besonders in Österreich “in Gefahr.

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„Sagen, was man nicht verschweig­en darf“: Wildgans-Preisträge­r und Schriftste­ller Daniel Kehlmann sieht die Demokratie in Gefahr, besonders in Österreich.
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Porträt des Schriftste­llers als junger Mann: „Ich liebe Wien besonders, seit ich hier nicht mehr lebe.“

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