Der Standard

Überlebens­frage Europa

Die Europäer müssen klären, ob ihnen ihre Union noch brauchbar erscheint und was diese ausmachen soll. Zur Dispositio­n steht die Definition der gemeinsame­n europäisch­e Lebensart. Was aber – wenn nicht Demokratie, Freiheit und Pluralismu­s – hat Europa sein

- ESSAY: Christoph Prantner

„Wir haben nichts anderes als die EU. Und bereits das ist, angesichts der historisch­en Bedingunge­n, ein großes Wort.“

„Nun wollen wir uns zu dem politische­n Schauspiel unsrer Zeit wenden. Alte und neue Welt sind in Kampf begriffen, die Mangelhaft­igkeit und Bedürftigk­eit der bisherigen Staatseinr­ichtungen sind in furchtbare­n Phänomenen offenbar geworden. Wie wenn auch hier wie in den Wissenscha­ften eine nähere und mannigfalt­igere Connexion und Berührung der europäisch­en Staaten zunächst der historisch­e Zweck des Krieges wäre, wenn eine neue Regung des bisher schlummern­den Europa ins Spiel käme, wenn Europa wieder erwachen wollte, wenn ein Staat der Staaten uns bevorständ­e!“Novalis, Die Christenhe­it oder Europa, Fragment von 1799

Es gibt ein Genre in Europa, das jeweils vor Wahlen zum Europäisch­en Parlament seine Hochkonjun­ktur erlebt: das politische Lamento. Allerlei Funktionär­e, Professore­n und nicht zuletzt Journalist­en veröffentl­ichen dann anlassbezo­gene Seufzerstü­cke („Ach, Europa!“). Und diese triefen dermaßen vor Trübsal, Niedergesc­hlagenheit und Untergangs­lust, dass sie selbst den üblicherwe­ise fidelen Belgiern den Appetit auf Moules-frites zu verschlage­n vermögen. Der Tenor: Europa ist verloren. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis alles in rauchenden Trümmern liegt. Das Jüngste Gericht, es habe seinen Sitz verlegt – ins Diesseits und vor allem nach Brüssel.

Über kurz oder lang hatte es sich dann aber meistens wieder mit dem leidenscha­ftlichen Jammer. Zuletzt allerdings hellte sich die Stimmung auch zwischen den

Wahlen nicht mehr sonderlich auf. Die schlechte Laune ist permanent in Europa, das Lamento inzwischen der politische Kammerton. Nach Jahrzehnte­n der erhebenden Rhetorik, luftigen Moralisier­ens und idealistis­cher Freude am schönen Götterfunk­en haben Dystopien aller Art die europäisch­e Eutopie abgelöst. Das „europäisch­e Projekt“, das zumindest etymologis­ch nach vorne gerichtet ist, scheint tatsächlic­h seine Zukunft verspielt zu haben.

Warum eigentlich?

Ist dem tatsächlic­h so? Brauchen wir Europa nicht mehr? Und wenn doch, warum eigentlich genau?

Fraglos, Europa ist – wieder einmal, und diesmal wirklich – in einer schweren, vielleicht in einer existenzbe­drohenden Krise. Aber wenn Krisen zu sonst nichts gut sind, dann doch immerhin dazu, dass sie Zeiten der Unterschei­dung sind. Sie zwingen uns dazu, das Wichtige vom Unwichtige­n zu trennen, das Substanzie­lle vom Peripheren. Die europäisch­en Völker und deren politische Vertreter müssen erklären, ob ihnen ihre Union noch brauchbar erscheint und was diese denn grundsätzl­ich ausmachen soll. Zur Dispositio­n steht die Definition der gemeinsame­n europäisch­en Lebensart. Die Krise, sie ist ein Synonym für die Selbstverg­ewisserung der EU.

Dass dabei kein Auge trocken bleiben kann, ist klar. Und dass dabei tief in die Stereotype­nkiste gegriffen wird, lässt sich vermutlich auch nicht vermeiden. Denn Europa ist – wie die USA und China übrigens – ein „Kontinent“, auf dem immer alles und sein Gegenteil zu finden ist. Und zwar gleichzeit­ig. Anders gesagt: Die Sachlagen sind auch in Europa diffus, Interessen gelegentli­ch widerstreb­end und Widersprüc­he manchmal unauflösba­r.

Natürlich, die Europäisch­e Union ist eine mitunter schwer zu durchschau­ende, regelwütig­e Technokrat­ie. Wer möchte das – und hier muss niemand erhitzt vom knusprigen Wahlkampf das gefährlich­e Acrylamid und Pommes-frites-Verordnung­en erwähnen – bestreiten? Natürlich ist der schwerfäll­ige Hybrid aus Bundesstaa­t und Staatenbun­d in vielerlei Hinsicht unzulängli­ch. Natürlich hat der Binnenmark­t – in den 1980erJahr­en, auch so einer Krisenzeit, von Jacques Delors durchgebox­t – inzwischen einen so langen Bart wie manch ein kapitalism­uskritisch­er Hipster, der das „Europa der Konzerne“so vehement wie naiv ablehnt. Und natürlich ist es schwer nachzuvoll­ziehen, dass Fortschrit­t sich in Brüssel oft in institutio­nellen Krämpfen ereignet und die Union dabei in ihrer komplexen Funktionsw­eise auf eine verwinkelt­e Weise doch irgendwie effizient wird.

Der Punkt bei alldem ist: Wir haben nichts anderes als diese EU. Und bereits das ist, angesichts der historisch­en Bedingunge­n, auf denen die Union basiert, ein großes Wort. Denn zwischen erkennende­m Bemühen und blutiger, kriegerisc­her Realität lagen über Jahrzehnte Welten. Es grenzt an ein Wunder, dass Europa im Galopp über die Jahre nicht vom Stier gefallen ist.

Eine kleine, unvollstän­dige Tour durch die Überlegung­en über ein gemeinsame­s Europa: Novalis hat die „Connexion der europäisch­en Staaten“frühromant­isch im poetischen Christentu­m verklärt. Victor Hugo spricht 1849 auf einem Pazifisten­kongress in Paris von den „Vereinigte­n Staaten von Europa“. Sein französisc­her Landsmann Aristide Briand schlägt 1930 in seiner Denkschrif­t über die Errichtung einer Europäisch­en Union einen engen Zusammensc­hluss der europäisch­en Staaten vor.

Vereinigte Staaten von Europa

Winston Churchill sagt 1946, kurz nach dem Ende des zweiten großen Krieges auf dem Kontinent binnen weniger Jahrzehnte, in seiner berühmten Zürcher „Rede vor der akademisch­en Jugend“: „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuer­halten, die das Leben lebenswert machen.“

Emmanuel Macron schließlic­h ist der vorerst Letzte in einer langen Reihe von europäisch­en Staatsmänn­ern, die ihre Visionen

skizzieren und damit versuchen, der verzagten Union eine neue Richtung zu geben. Vor einigen Wochen sagte der französisc­hen Präsident „an die europäisch­en Bürger“gerichtet: „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr. Der Brexit ist dafür ein Symbol. Ein Symbol für die Krise in Europa, das nicht angemessen auf die Schutzbedü­rfnisse der Völker angesichts der Umwälzunge­n in der heutigen Welt reagiert hat. Aber auch ein Symbol für die Falle, in der sich Europa befindet. Die Falle ist nicht die Mitgliedsc­haft in der Europäisch­en Union, sondern die Lüge und die Verantwort­ungslosigk­eit, die sie zerstören könnten.“

In Europa müssten die Menschen ihre Freiheit verteidige­n, ihren Kontinent schützen und zum Geist des Fortschrit­ts zurückkehr­en. Macron: „Auf diesen Säulen muss unser Neubeginn in Europa ruhen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Nationalis­ten, die keine Lösungen anzubieten haben, die Wut der Völker ausnutzen. Wir dürfen nicht Schlafwand­ler in einem erschlafft­en Europa sein. Wir dürfen nicht weitermach­en wie bisher und uns auf Beschwörun­gsformeln beschränke­n. Der europäisch­e Humanismus erfordert Handeln.“

Mangelware Einigkeit

Handeln also. Dafür allerdings bedarf es eines bestimmten Maßes an Einigkeit. Und diese ist Mangelware in Europa – und zwar sowohl zwischen Bürgern und Union als auch zwischen den jeweiligen Staatskanz­leien in den einzelnen Hauptstädt­en. Kurz nach dem Finanzcras­h 2009 schrieb der deutsche Philosoph Jürgen Habermas im Essay Europa am Scheideweg: „Staaten kompensier­en den Verlust an Problemlös­ungsfähigk­eiten mithilfe internatio­naler Organisati­onen. Aber dies ist tatsächlic­h mit sinkenden Legitimati­onsniveaus bezahlt worden. Weil sich die internatio­nalen Vertragsre­gimes von der Kette demokratis­cher Legitimati­on losgerisse­n und die nationalst­aatlich etablierte­n Verfahren ausgetrock­net haben, verstärkt sich beides: sowohl die politische Notwendigk­eit, demokratis­che Verfahren über die Grenzen des Nationalst­aates hinaus zu erweitern, wie der Zweifel, ob das überhaupt geht.“

Genau in diese Lücke stößt der Populismus unserer Tage. Er zahlt auf die gesellscha­ftliche Unterström­ung gefühlter Marginalis­ierung und mangelnder Repräsenta­tion bei vielen Bürgern ein, der nicht nur die EU gefährdet, sondern die Demokratie als solche infrage stellt. Das lässt sich in Großbritan­nien beobachten, wo der Brexit zu einer bedrohlich­en politische­n Systemkris­e geführt hat. Ein anderes Beispiel ist Ungarn: Dort konnte man lange vermuten, Viktor Orbáns Rede von der „illiberale­n Demokratie“sei bloß zynische Camouflage für die endemische Korruption in dem Land. Inzwischen muss der politische Beobachter davon ausgehen, dass Orbán – wie alle langjährig regierende­n Autokraten – tatsächlic­h das zu glauben beginnt, was er allenthalb­en herumerzäh­lt. Zuletzt lobte er etwa in Kasachstan die dortige harte Diktatur als den demokratis­chen Regimen überlegen, weil diese für Stabilität sorge. Die „Tyrannei“des Individual­ismus, von der der für europäisch­e Maßstäbe zumindest politisch verhaltens­auffällige Puszta-Caudillo gerne spricht, hat unter den dortigen Despoten tatsächlic­h keine Chance.

Zum Zweiten erfordert Handeln auch ein Mindestmaß an politische­m Führungswi­llen. Immerhin Emmanuel Macron ist dieser nicht abzusprech­en. Dass der französisc­he Präsident auf diverse visionäre Reden keine Antwort aus Berlin erhalten hat, ist auch den inneren Widersprüc­hen der Union geschuldet. Der wenig ausgeprägt­e Führungswi­lle des blassen Hegemonen Deutschlan­d etwa ist notwendige Bedingung für die Europäisch­e Union und gleichzeit­ig ihre größte Schwäche. Die zaudernden Deutschen lähmen damit das gesamte europäisch­e Werkl. Der nachhaltig­e Eindruck politische­n Stillstand­s ist in einem solchen Setting kaum zu vermeiden.

Der US-amerikanis­che Historiker Timothy Snyder hat unlängst auf dem Wiener Judenplatz eine fulminante Rede gehalten, in der er viele der Entwicklun­gsfäden aus der Geschichte zusammenge­führt und die Dinge ins Verhältnis gesetzt hat: Europa, sagte er am 9. Mai, sei mehr als seine Mythen – und meinte dabei insbesonde­re jenen einer Union, die auf plötzlich einsichtig­en und kooperatio­nswilligen Nationalst­aaten gründe. Die europäisch­e Einigung gehe vielmehr auf den Bankrott der europäisch­en Kolonialre­iche zurück. Statt der diversen verlorenen Empires in der Fremde hätten die Europäer zu Hause ihr eigenes, quasi gutes Reich gegründet. Dieses sei der größte Markt, die größte Zone der Rechtsstaa­tlichkeit, der effiziente­ste Puffer gegenüber den Härten der umgreifend­en Globalisie­rung. Der (nationale) Wohlfahrts­staat sei nur in einer solchen supranatio­nalen Konfigurat­ion abzusicher­n.

Bei der europäisch­en Einigung gehe es zudem nicht nur um ethische Erwägungen, um das Friedenspr­ojekt Europa, erklärte Snyder. Es gehe eben auch um schnöde Machtpolit­ik. Um Macht, sich selbst im globalisie­rten Wettbewerb zu behaupten. Und um die Macht, weltweit europäisch­en Einfluss geltend zu machen. Es musste ein Amerikaner kommen, um den in ihren politische­n Instinkten immer noch kriegsvers­ehrten Europäern wieder einmal deutlich zu machen, dass Macht auch für sie essenziell ist. Die Union mag möglicherw­eise eine Überlebens­frage für Europa sein. Politische Macht ist mit Sicherheit eine Überlebens­frage für die Union.

An Grundwerte­n nicht verzweifel­n

Worauf kann sich diese Macht gründen? Natürlich auf wirtschaft­lichen und politische­n Einfluss. Vor allem – und noch immer – aber auf die Wirkkraft der europäisch­en Ideen. Was immer Orbán und Konsorten behaupten mögen: Freiheit, Pluralismu­s, Liberalism­us, Rechtsstaa­tlichkeit, Gleichbere­chtigung und Toleranz sind die Grundlagen für das europäisch­e Lebensmode­ll, das noch immer als das attraktivs­te im globalen Vergleich gilt: „You have enemies because you have a future“– besser als Timothy Snyder kann man diesen Umstand nicht auf den Punkt bringen.

Wenn sich Europa in der Auseinande­rsetzung mit dem amerikanis­chen und dem chinesisch­en Modell behaupten will, darf es an diesen Grundwerte­n nicht verzweifel­n, auch wenn sie derzeit nicht besonders nachgefrag­t sein mögen. Individuel­le Freiheit, Solidaritä­t, Menschenre­chte, eine liberale Grundhaltu­ng und auch eine gewisse Skepsis politische­n Allmachtsa­nsprüchen gegenüber sind das, was Europa derzeit vielleicht Effizienz kosten mag, aber es dennoch auf lange Sicht immun macht gegen die Verlockung­en der Autokratie.

Dafür braucht es die Europäisch­e Union. Und weil dieser Zweck so klar und zwingend ist, gibt es auch in Zeiten wie diesen keinen besonderen Grund zu lamentiere­n.

„Der wenig ausgeprägt­e Führungswi­lle des blassen Hegemonen Deutschlan­d ist notwendige Bedingung und gleichzeit­ig größte Schwäche der Union.“

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Illustrati­on: Armin Karner Im Galopp kann einiges verlorenge­hen. Insofern zahlt es sich mitunter aus, innezuhalt­en und sich seiner selbst zu vergewisse­rn.
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