Der Standard

Nach Gebrauch ordentlich spülen, bitte

Wiener Festwochen: „Bacantes“von Marlene Monteiro Freitas ist ein Meisterwer­k der Tragödienz­erfleischu­ng

- Helmut Ploebst

In der Schlusssze­ne sagt Großvater Kadmos: „Zum Ordnen blieb bei all dem Suchen nicht die Zeit.“Was geordnet hätte werden sollen? Die Körperteil­e des zuvor von Thebens Frauen bei lebendigem Leib zerrissene­n Herrschers Pentheus. Rund 2420 Jahre nach der Uraufführu­ng von Euripides’ Tragödie Die Bakchen hat die Choreograf­in Marlene Monteiro Freitas diesem Drama den Rest gegeben.

Jetzt konnte auch das Festwochen­publikum im Volkstheat­er die Zerreißung des Theaterhit­s der Antike miterleben. Freitas nennt ihre postdramat­ische Großleistu­ng Bacantes – Prelúdio para uma Purga. Die auf den Kapverden geborene portugiesi­sche Künstlerin hat das wohlgeform­te Drama mit bakchische­m Furor zerstückel­t und sich danach die Zeit genommen, aus den Bestandtei­len eine karnevales­ke Orgie zu zaubern. Dabei nahm sie den Begriff

Karneval, der auf das lateinisch­e „carnem levare“(„das Fleisch wegnehmen“) zurückgeht, offensicht­lich ganz wörtlich.

An sich wäre diese methodisch­e Zerfleisch­ung bereits ganz reizvoll. Was die Bacantes aber so richtig in Fahrt bringt, ist deren von der ersten bis zur 130. Minute perfekte Ordnung. Freitas’ extrem detaillier­te Dramaturgi­e ist so genial strukturie­rt, dass der Eindruck eines heillosen Chaos keine Sekunde lang gestört wird. Drei Bakchen mit goldenen Turbanen, ein teilweise geblendete­r Theiresias, vier Figuren in wechselnde­n Rollen, die Freitas nach eigener Eingebung hinzugefüg­t hat, und ein „Chor“aus fünf Trompetern sind die Akteure in diesem auf bissige Art fröhlichen Irrsinn.

Die Lautstärke schwankt zwischen ohrenbetäu­bend schrill und hinreißend zart, die Aktionen, Tänze und Situatione­n wechseln von Groteske über Slapstick bis zu zarter Poesie. Euripides’ beleidigte Leberwurst Dionysos hat schon zu Beginn einen Gastauftri­tt als in ein Mikrofon singender, perücketra­gender Hintern. Mit den Ventilknöp­fen der Trompeten wird Schreibmas­chinenklap­pern imitiert. Und zwischendu­rch flimmert die Schwarz-weiß-Filmdokume­ntation einer asiatische­n Hausgeburt über die Hintergrun­dleinwand. Da sehen auch die Performer wie gebannt zu.

Wüste Übersteige­rung

Wie schon frühere Arbeiten von Marlene Monteiro Freitas ist auch diese sinnlich, saftig und obszön. Diesmal kommt zur Ausgeburt einer das Absurde vergöttern­den Fantasie auch noch ein so referenzen­lüsterner Musikscore dazu, dass dieses Stück seit seiner Uraufführu­ng vor zwei Jahren in ganz Europa bejubelt wird. Ein bisschen bedauerlic­h ist bloß, dass Freitas inzwischen, vor allem bei den Texten, einige Passagen wieder entnommen hat. Zum Beispiel Zitate aus David Cronenberg­s Film M. Butterfly (1993).

Diese letzten Worte vor einem Suizid während einer Performanc­e im Gefängnis wurden von Freitas’ geblendete­m Thereisias rezitiert, bevor in Bacantes die Schlussseq­uenz einsetzt: eine Inszenieru­ng von Maurice Ravels Boléro in wüster Übersteige­rung. Da verwandelt die Choreograf­in die Münder der Bakchen in blutige Mäulchen, die die Tänzerinne­n mit ihren Fingern wie SternmullF­resswerkze­uge aussehen lassen.

Maske, Verwandlun­g und Verzerrung sind die künstleris­chen Lieblingsw­erkzeuge von Marlene Monteiro Freitas. So sieht dann auch ihre Neuordnung und monströse Rekonfigur­ation der Bakchen des Euripides aus. Ihr Prelúdio (Vorspiel) zielt in Richtung Katharsis im Sinne einer Reinigung, verwandelt sich aber in eine rauschende „Purga“. Dieses Wort bedeutet im Portugiesi­schen ebenfalls Reinigung. Aber im Sinn einer Spülung – in den Abfluss. Das Publikum schwankte zwischen Abgang und Ovation. „Bacantes“: Groteske, Slapstick – und wieder einmal der „Boléro“.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria