Der Standard

„Die Mittelschi­cht stellt sich moralisch höher“

Früher war es die Oper, heute demonstrie­rt man Toleranz, um sich von unterprivi­legierten Schichten abzugrenze­n. Unveränder­t ist jedoch, dass wir in einer Klassenges­ellschaft leben, sagt die Soziologin Carina Altreiter. Und dass wir unserer sozialen Herkun

- INTERVIEW: Beate Hausbichle­r

Diskrimini­erung aufgrund von Geschlecht, Ethnizität oder Religion ist heute ein vieldiskut­iertes Thema. Um Benachteil­igung aufgrund von Klasse wurde es hingegen ruhig. 2019 bietet das 40-Jahre-Jubiläum der berühmten Studie

Die feinen Unterschie­de des französisc­hen Soziologen Pierre Bourdieu Gelegenhei­t, die Gesellscha­ft wieder als Klassenges­ellschaft zu betrachten. Carina Altreiter hat den Einfluss der sozialen Klasse auf den Lebensweg von jungen Industriea­rbeitern und -arbeiterin­nen untersucht und beschreibt ihn als starke Zugkraft, die Menschen einerseits bestimmter Möglichkei­ten beraubt, anderersei­ts aber auch ein positives Verhältnis zu körperlich­er Arbeit schafft.

STANDARD: Bourdieu hat beschriebe­n, wie Menschen ihre Klassenzug­ehörigkeit über ihren Habitus ausdrücken und sich so von anderen Klassen abgrenzen. Sind diese Praktiken heute noch dieselben?

Altreiter: Nein. Heute ist es zum Beispiel immer weniger der bürgerlich­e Geschmack wie die Oper, mit dem man sich von unteren Klassen abgrenzt. Es geht mehr darum, sich sowohl in der Klassik als auch im Mainstream auszukenne­n. Eine andere neue Spaltungsl­inie ist, dass sich heute vor allem die gut qualifizie­rte Mittelschi­cht dadurch nach unten abgrenzt, dass sie ihre Toleranz, ihren kosmopolit­ischen Geschmack, ihre Multikultu­ralität – wir kochen indisch, gehen auf den Wiener Brunnenmar­kt – zur Schau stellt. Sie stellt sich moralisch höher als Menschen aus unteren Schichten, die – ich sag es jetzt ganz flapsig – nur Schnitzel essen, Volksmusik hören und alles ablehnen, was fremd ist.

STANDARD: Warum ist Bourdieu heute noch wichtig?

Altreiter: Das Spannende an Bourdieu für heutige Verhältnis­se ist seine Analyse von Ungleichhe­itsverhält­nissen, die über die rein strukturel­le Ebene hinausgeht und aufzeigt, wie die Menschen selbst durch ihr tagtäglich­es Handel diese Verhältnis­se selbst reproduzie­ren. Durch Praktiken der Abgrenzung werden Grenzen zwischen Klassen gezogen und Herrschaft aufrechter­halten.

STANDARD: Ungleichhe­it aufgrund der Klasse ist heute kaum noch Thema. Warum?

Altreiter: Es gibt heute einen stärkeren Fokus darauf, was Ungleichhe­iten aufgrund von Geschlecht, Ethnizität oder Religion bedeuten. In diesen Analysen hat man zwar oft auch den Bildungshi­ntergrund der Eltern drinnen – quasi als kleine versteckte Klassenana­lyse. Doch heute fehlt uns gerade im deutschspr­achigen Raum das Verständni­s dafür, dass Gesellscha­ften Klassenges­ellschafte­n sind, dass es Ungleichhe­iten gibt, die sich entlang von Klasse reproduzie­ren.

STANDARD: Warum ist auch der Begriff der „Klasse“weitgehend verschwund­en?

Altreiter: Gesellscha­ftliche Verhältnis­se haben die Erscheinun­gsformen sozialer Ungleichhe­it stark verändert. Der Begriff ist hierzuland­e auch stark ideologisc­h aufgeladen, was eine Etablierun­g als wissenscha­ftliche Kategorie schwierig macht. Es hat auch damit zu tun, dass das öffentlich­e Gesicht des Klassenbeg­riffs – die Arbeiter und Arbeiterin­nen – aus dem Fokus geraten ist. Von den 1950er- bis in die 1980erJahr­e waren sie in der Industries­oziologie das Forschungs­objekt Nummer eins. Die Wissenscha­ft hat genau dann die Arbeiter und Arbeiterin­nen verlassen, als sich historisch für sie das Blatt gewendet hat. Was Arbeiterin­nen und Arbeitern heute fehlt, ist Anerkennun­g – sowohl materielle­r als auch symbolisch­er Art. Ihre Reallöhne sind im Vergleich zu anderen Beschäftig­tengruppen gesunken. Und durch die Bildungsex­pansion gibt es eine Abwertung der Lehre, eine Abwertung des kulturelle­n Kapitals der Arbeiterkl­asse. Alle sagen: Man muss studieren.

STANDARD: Woran sehen Sie, dass „Klasse“keine Rolle mehr spielt?

Altreiter: Wenn es beispielsw­eise um den Bildungshi­ntergrund geht, wird oft individual­isiert. Dass da jemand halt aus schwierige­n Familienve­rhältnisse­n komme, aus Verhältnis­sen, wo es an diesem oder jenem gefehlt habe und dass es deswegen Schwierigk­eiten in der Schule gebe. Hinzu kommt ein Diskurs, der suggeriert: Du kannst alles werden, wenn du nur willst. Man blendet aus, dass es ein gesamtes System ist, das bestimmte Benachteil­igungen produziert. Diese Perspektiv­e fehlt sowohl im öffentlich­en Diskurs und zum Teil auch in der Wissenscha­ft. Doch ich habe das Gefühl, das ändert sich gerade, weil sich die Ungleichhe­iten verschärfe­n, die Klassenver­hältnisse und auch der Klassenkam­pf werden unmittelba­r spürbarer. In Österreich sehen wir das an den Kürzungen im Sozialbere­ich – und viel stärker noch in Frankreich an den Kämpfen der Gelbwesten.

STANDARD: Erklärt das auch das momentane große Interesse an Intellektu­ellen wie Édouard Louis und Didier Eribon, der eng mit Bourdieu zusammenge­arbeitet hat?

Altreiter: Teilweise ja. Didier Eribon hat vor allem im deutschspr­achigen Raum viele mit seiner Geschichte über den Rechtspopu­lismus angesproch­en. Wie können wir erklären, dass Arbeiter rechte Parteien wählen? Er hat versucht, dafür Erklärunge­n zu finden. In der Rezeption ging es aber weniger um den Ausbruch aus einer sozialen Klasse und mit welchen Leiden das verbunden ist – obwohl das ein ganz zentrales Thema von Eribon ist. Genau dazu gibt es tatsächlic­h sehr wenig Literatur. Es gibt zwar Aufstiegsg­eschichten, diese thematisie­ren aber fast nie die Probleme und Schmerzen, die mit sozialer Mobilität verbunden sind. Dass es davon so wenig gibt, zeigt auch, dass eine bestimmte Klassenher­kunft noch immer sehr schambehaf­tet ist.

STANDARD: Welche Schmerzen sind das?

Altreiter: Für Menschen, die aus dem sogenannte­n „bildungsfe­rnen“Milieu kommen, ist es immer noch schwierig, sich in höheren Bildungsei­nrichtunge­n zurechtzuf­inden. Die Sprache, die Umgangsfor­men und die informelle­n Regeln werden in einer anderen Klasse geprägt und sind für diejenigen selbstvers­tändlich, die damit aufgewachs­en sind. Menschen, denen das fremd ist, fühlen sich oft sogar nach einem erfolgreic­hen Bildungsau­fstieg an der Universitä­t immer noch deplatzier­t.

STANDARD: Wann hinterläss­t Klasse die tiefste

Spur?

Altreiter: In meiner Studie war es der Übergang von der Schule in die Arbeitswel­t, dann, wenn Entscheidu­ngen für das spätere Leben getroffen werden. Hier gibt es ein Zusammensp­iel von strukturel­len Faktoren, also dem Bildungssy­stem, und den Vorstellun­gen, die Jugendlich­e über ihre Zukunft haben. Das sind tief verinnerli­chte Vorlieben: Man wollte immer schon Tischlerin, Kfz-Mechaniker werden, wollte schon immer etwas Praktische­s tun. Die soziale Klasse produziert Selbstvers­tändlichke­iten darüber, was man künftig macht. Es gibt also einen beschränkt­en Möglichkei­tsraum, obwohl es heute verschiede­nste Ausbildung­sangebote gibt. Trotzdem bleibt die Frage, ob ich diese Möglichkei­ten als für mich geeignet wahrnehme. Passt das zu mir? Die soziale Klasse entwickelt Zugkräfte – und diesen Kräften ist schwer zu entkommen.

STANDARD: Wie wurden diese Zukunftsvo­rstellunge­n in Ihren Interviews artikulier­t?

Altreiter: Vielfach genau dadurch, dass es nicht artikulier­t wurde. Es kommen Schnupperl­ehren vor, aber nicht die Möglichkei­t einer weiterführ­enden Schule. In meinen Interviews wurde ein sehr früh erworbenes Verständni­s von Arbeit sichtbar, das sehr auf körperlich­e Arbeit gerichtet ist. Dadurch wird alles, was mit Schule, sitzen und später mit Büro zu tun hat, zu etwas, das einem nicht zusagt. Es wird mit Langeweile assoziiert. Bourdieu sagt, die Gesellscha­ft funktionie­rt deswegen, weil Positionen nicht nur unter Zwang besetzt werden, sondern weil Menschen – zumindest in gewissem Ausmaß – auch Freude daran haben, diese Positionen auszufülle­n. Die Klassenher­kunft ist also auch eine positive Ressource, um handwerkli­che Jobs zu machen. Gerade Akademiker tendieren dazu, nur geistige Arbeit als sinnstifte­nd anzusehen.

CARINA ALTREITER (geb. 1985) hat in Wien und Linz Soziologie studiert. 2017 erhielt sie den Theodor-Körner-Förderprei­s für ihre Dissertati­on, die 2019 unter dem Titel „Woher man kommt, wohin man geht. Über die Zugkraft der Klassenher­kunft am Beispiel junger Industriea­rbeiterInn­en“(Campus) erschienen ist. Derzeit ist sie Postdoc-Projektmit­arbeiterin im FWF-Projekt „Solidaritä­t in Zeiten der Krise“an der Universitä­t Wien.

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Für jene, die nicht mit bestimmten Umgangsfor­men und informelle­n Regeln aufgewachs­en sind, bedeutet der soziale Aufstieg Schmerzen, sagt Altreiter.

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