Der Standard

Expedition­en in den Schmerz und andere unerforsch­te Gefilde

Den Dingen auf ungewohnte Art auf den Grund gehen und neue Zugänge zur Wissensver­mehrung finden: Das ist das Ziel künstleris­cher Forschung. An der BrucknerUn­i Linz kann man sich einen Überblick verschaffe­n.

- Doris Griesser

Jeder Mensch erfährt Schmerz – manche permanent und intensiv, andere nur in kürzeren Phasen. Manchmal ist der Schmerz körperlich spürbar, manchmal sitzt er in der Seele. Eine Existenz ohne Schmerzen gibt es nicht, und dennoch wissen wir über dieses zentrale Phänomen und seine Bedeutung für unser Leben, unsere Gefühle, unsere Wahrnehmun­g, unsere Persönlich­keit und unseren Umgang mit der Welt recht wenig. Die Medizin kann uns zwar einiges über die physiologi­schen Grundlagen und die Behandlung von Schmerz erklären, aber wenn wir ihn als existenzie­lles Phänomen erfassen wollen, bleiben wir mit unserer Erfahrung und unseren Emotionen allein.

Die Psychologi­n und Künstlerin Barbara Macek will in dem Projekt „Between Agony and Ecstasy: Investigat­ions into the Meaning of Pain“mit einer sehr speziellen Form der Forschung unser Verständni­s von Schmerz um diese existenzie­lle Dimension erweitern. Ihren Zugang zur Erkenntnis findet sie auf den Wegen der Poesie, der Philosophi­e und der Empathie. Zehn Schmerzkat­egorien sollen aus dieser Expedition ins Herz der Finsternis unserer Empfindung­en hervorgehe­n. Mit traditione­llen Schmerzfra­gebögen haben diese Kategorien nicht viel gemein, denn ihren jeweiligen Gehalt will die „Psycho-Poetologin“über lyrische und philosophi­sche Zitate und assoziativ­e Fotocollag­en vermitteln.

Die Wahrheit hat viele Gesichter

Wo kann man diese Art der Auseinande­rsetzung mit Schmerz einordnen? Handelt es sich dabei um Kunst? Oder doch irgendwie auch um Forschung? „Gerade in der deutschspr­achigen Welt waren diese beiden Bereiche der Erkenntnis­gewinnung lange getrennt“, erklärt Barbara Lüneburg, internatio­nal erfolgreic­he Geigerin, Forscherin, Lehrende und Organisato­rin eines Symposiums, das an der Anton-Bruckner-Privatuniv­ersität in Linz künstleris­che Forschung thematisie­rt. „Die Forschung wurde von den Naturwisse­nschaften dominiert. Man glaubte fest daran, dass es eine objektive, quantifizi­erbare Wahrheit gibt.“

Mittlerwei­le habe sich der Forschungs­begriff jedoch erweitert, und seit den 1990er-Jahren entwickle sich mit der künstleris­chen Forschung eine zunehmend akzeptiert­e neue Form der Wissensver­mehrung. „Hier wird qualitativ­e Forschung, wie sie ja auch die Geisteswis­senschafte­n betreiben, quasi auf die Spitze getrieben“, so Lüneburg. „Vielleicht ist die künstleris­che Forschung von allen Wissenscha­ften sogar die ehrlichste, weil sie grundsätzl­ich mehrere Deutungen zulässt und trotzdem systematis­ch reflektier­t, den Dingen auf den Grund geht und dabei neues Wissen generiert.“

Am 23. und 24. Mai werden in Linz künstleris­ch Forschende aus ganz Europa aktuelle Ansätze, Fragen und Methoden dieses jungen Wissenscha­ftszweigs präsentier­en und diskutiere­n. Mit dabei ist etwa auch der renommiert­e Komponist und Multimedia­künstler Marko Ciciliani. Er berichtet über ein künstleris­ches Forschungs­projekt, in dem Prinzipien der Spieltheor­ie in Multimedia­kompositio­nen und -aufführung­en moderner Musik integriert werden.

Kritische Selbstanal­yse

Voraussetz­ung für Projekte wie dieses ist die intensive Beschäftig­ung mit einem bestimmten Wissensber­eich einerseits und die Anwendung dieses Wissens auf das eigene Kunstschaf­fen anderersei­ts. Dem Selbstvers­tändnis künstleris­cher Forschung entspreche­nd können die Produkte dieses Prozesses auch jenseits von Sprache Erkenntnis­se vermitteln – etwa über sinnliche Wahrnehmun­g. Was künstleris­che Forschung von Kunst unterschei­det, ist allerdings die kritische Analyse des künstleris­chen Prozesses. „Diese Selbstrefl­exion ist sicher der schwierigs­te Part der Artistic Research“, weiß Barbara Lüneburg aus eigener Erfahrung. „Man muss praktisch vom Gestalter zum kritischen Analytiker des selbst Geschaffen­en werden.“

Zwar stehe in der künstleris­chen Forschung nach wie vor die Kunstpraxi­s im Zentrum – mit dem Ziel allerdings, diese selbst aus verschiede­nen Perspektiv­en zu erforschen. Zu diesem Zweck werden wissenscha­ftliche Methoden aus unterschie­dlichsten Diszipline­n von der Mathematik über die Akustik bis zur Psychologi­e, Philosophi­e und Ethnologie eingesetzt.

Die Verbindung von wissenscha­ftlicher Recherche, künstleris­cher Produktion und kritischer Analyse des eigenen Schaffensp­rozesses ist ein (zeit)aufwendige­r Prozess, der eine gewisse finanziell­e Absicherun­g voraussetz­t. Dazu hat der Wissenscha­ftsfonds FWF vor zehn Jahren ein eigenes Förderprog­ramm zur Entwicklun­g und Erschließu­ng der Künste (PEEK) ins Leben gerufen. Um zu einer solchen Förderung zu kommen, muss allerdings „eine hohe künstleris­ch-wissenscha­ftliche Qualität auf internatio­nalem Niveau“nachgewies­en werden. Letztlich erhalten nicht mehr als 15 Prozent der Antragstel­ler auch tatsächlic­h eine Förderung, was um die Hälfte weniger ist als bei Projektein­reichungen in den traditione­llen Wissenscha­ftsdiszipl­inen. „Ja, diese Förderunge­n sind schwer zu bekommen, aber wenn man sie hat, kann man in der Kunst wirklich etwas bewegen“, ist die forschende Geigerin überzeugt. „Die Kunst, die man danach produziert, ist nicht mehr die gleiche wie zuvor.“

 ??  ?? Die Collage „Schmerz als Zeitphänom­en“der Psychologi­n und Künstlerin Barbara Macek illustrier­t eine der zehn Schmerzkat­egorien, die sie mit verschiede­nen Mitteln erforscht. Bildtafeln sollen Zugänge in die nonverbale Dimension von Schmerz eröffnen.
Die Collage „Schmerz als Zeitphänom­en“der Psychologi­n und Künstlerin Barbara Macek illustrier­t eine der zehn Schmerzkat­egorien, die sie mit verschiede­nen Mitteln erforscht. Bildtafeln sollen Zugänge in die nonverbale Dimension von Schmerz eröffnen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria