Der Standard

Steuerpoli­tik, europäisch gedacht

Die österreich­ische Politik sollte die bisherige Devise „Keine neuen Steuern“weiterentw­ickeln. Ein neues Grundprinz­ip könnte dann „Weniger und intelligen­tere Steuern“lauten.

- Joseph Stiglitz, Margit Schratzens­taller

In einem neuen Buch, das von der Foundation for European Progressiv­e Studies (FEPS) unter dem Titel Rewriting the Rules of the European Economy herausgege­ben wird, argumentie­ren wir dafür, dass die EU-Mitgliedsl­änder alte Credos und neuere Überzeugun­gen darüber, was ein gutes Abgabensys­tem ausmacht, überdenken sollten.

Das schiere Ausmaß der Besteuerun­g in Europa, wo die Abgabenquo­te im Durchschni­tt bei 35 Prozent der Wirtschaft­sleistung liegt, erfordert, dass die Frage nach der Zukunft des Abgabensys­tems sehr ernst genommen wird. Schlecht ausgestalt­et, können Steuern an sich produktive Aktivitäte­n verzerren und so Ineffizien­zen verursache­n sowie die Ungleichhe­it verstärken. Gute Steuerpoli­tik kann hingegen die ökologisch­e Nachhaltig­keit stärken (etwa durch eine CO2-Steuer) und sozial oder individuel­l schädliche­s Verhalten eindämmen (beispielsw­eise Finanzspek­ulation oder Tabakkonsu­m). Eine simple

Leitlinie, die nur auf Steuersenk­ungen abzielt, überdeckt die wahren Fragen, mit denen die EUMitglied­sländer im 21. Jahrhunder­t konfrontie­rt sind.

Im 21. Jahrhunder­t braucht eine funktionie­rende dynamische Volkswirts­chaft umfangreic­he öffentlich­e Investitio­nen – auch abseits klassische­r Infrastruk­turmaßnahm­en. Wer zur globalen Innovation­sökonomie gehören möchte, sollte auf Grundlagen­forschung und Technologi­e setzen. Um produktive und flexible Arbeitskrä­fte zu erhalten, muss zudem ein Fokus auf Bildung, Ausbildung und eine aktive Arbeitsmar­ktpolitik gelegt werden. Um sicherzust­ellen, dass niemand zurückblei­bt, und zur Vermeidung aller damit verbundene­n negativen Konsequenz­en für die Gesellscha­ft bedarf es auch Investitio­nen in die soziale Absicherun­g.

Im österreich­ischen Kontext spricht grundsätzl­ich nichts gegen eine Steuerpoli­tik, die auf eine leichte Reduktion der Abgabenquo­te abzielt, wie von der noch amtierende­n Regierung geplant. Allerdings könnte Österreich eine europäisch­e Vorreiterr­olle einnehmen. Und zwar indem es einen fundamenta­len Umbau der Abgabenstr­uktur in Richtung eines „intelligen­teren“Abgabensys­tems vorantreib­t – hin zu ausgewogen­eren und effiziente­ren Steuern. Das würde einerseits erfordern, auf europäisch­er Ebene einige der bestehende­n Defizite der europäisch­en Integratio­n im Steuerbere­ich anzugehen. Anderersei­ts sollten einige Glaubenssä­tze aufgegeben werden, die die Steuerpoli­tik in den letzten 30 Jahren geprägt haben.

Unsere Vision erfordert beispielsw­eise, dass eine österreich­ische Steuerrefo­rm in eine nachhaltig­keitsorien­tierte Richtung weiterentw­ickelt wird, um Anreize für weniger Umweltvers­chmutzung zu schaffen. Eine CO2-Steuer kann in diesem Sinn besonders effektiv sein. Es gibt einen globalen, langfristi­gen Trend zu steigender Ungleichhe­it, gegen den auch Österreich nicht immun ist. Progressiv­e Steuern sind daher nach wie vor ein wichtiges Instrument. Die Abschaffun­g der Vermögenss­teuer 1993 und der Erbschafts­und Schenkungs­steuer 2008 ist durchaus zu diskutiere­n. Auch die Grundsteue­r sollte reformiert werden.

EU-Unterbietu­ngswettbew­erb

Wie wir in unserem Buch aufzeigen, sind Einkommens­teuerspitz­ensätze und Unternehme­nssteuersä­tze in der EU langfristi­g deutlich gesunken. Zwischen 1995 und 2018 ist der Einkommens­teuerspitz­ensatz im Durchschni­tt der EU um etwa acht Prozentpun­kte auf 39 Prozent zurückgega­ngen. Noch mehr wurden die Steuern für Kapitalges­ellschafte­n reduziert, mit einem Rückgang des durchschni­ttlichen Körperscha­ftsteuersa­tzes von 35 Prozent Mitte der 1990er-Jahre auf 22 Prozent 2018. Ein Hauptgrund für diese Unternehme­nssteuerse­nkungen ist ein grundsätzl­icher Konstrukti­onsfehler des europäisch­en Binnenmark­ts. Er schafft Anreize für die EU-Mitgliedsl­änder, sich auf einen Unterbietu­ngswettbew­erb mit ihren Nachbarsta­aten einzulasse­n, auf Kosten der europäisch­en Solidaritä­t. In solch einem System nutzen die multinatio­nalen Unternehme­n die Freiheiten im europäisch­en Binnenmark­t, um Unternehme­nsgewinne dort zu versteuern, wo es für sie am günstigste­n ist – wo die niedrigste­n Steuersätz­e oder die besten Steuerdeal­s geboten werden, wie das etwa Apple in Irland macht. Das bedeutet einen klaren Wettbewerb­snachteil für kleine und mittlere binnenmark­torientier­te Unternehme­n. Der Unternehme­nssteuerwe­ttbewerb unterminie­rt den europäisch­en Binnenmark­t und die europäisch­e Wirtschaft, aber es gibt zu wenig nachhaltig­en Druck, ihn einzudämme­n oder gar zu beseitigen.

Europäisch­e Reformen

Wenn eine österreich­ische Regierung die Steuerlast für die Bürgerinne­n und Bürger sowie die Unternehme­n des Landes ernsthaft senken will, sollte sie zuallerers­t Reformen auf europäisch­er Ebene fordern. Die österreich­ischen Unternehme­n unterliege­n einem nominellen Unternehme­nssteuersa­tz von 25 Prozent, während Ungarn den Körperscha­ftsteuersa­tz auf neun Prozent reduziert hat. Allerdings illustrier­t das Beispiel Irlands, das seinen gesetzlich­en Steuersatz von 12,5 Prozent für multinatio­nale Unternehme­n effektiv auf vier Prozent reduziert hat, das eigentlich­e Problem. 2014 zahlte Apple auf seine in Irland deklariert­en Gewinne nur 0,005 Prozent Steuern – und ein großer Teil dieser Gewinne hätte in anderen europäisch­en Ländern, auch in Österreich, versteuert werden sollen. Aber Irland ist nicht allein: Auch Luxemburg fungiert als Steueroase, in die Gewinne, beispielsw­eise durch Lizenzen oder Patente, verschoben und dann mit weniger als sechs Prozent besteuert werden. Warum sollen im europäisch­en Binnenmark­t solche Wettbewerb­sverzerrun­gen und Ungleichhe­iten akzeptiert werden?

Um diese Probleme in den Griff zu bekommen, ist eine volle Harmonisie­rung der Unternehme­nsbesteuer­ung nicht erforderli­ch. Die EU-Mitgliedsl­änder könnten sich beispielsw­eise auf eine Bandbreite für die Unternehme­nssteuersä­tze einigen, die ihnen einen gewissen Spielraum belässt. Oder sie könnten einfach einen Mindestste­uersatz – beispielsw­eise von zwanzig Prozent – einführen. Diese Maßnahme, die auch der österreich­ische Finanzstaa­tssekretär Hubert Fuchs jüngst vorgeschla­gen hat, wäre ein vernünftig­er Schritt. Anstatt gegeneinan­der um Kapitalges­ellschafte­n zu konkurrier­en, könnten und sollten die EU-Länder zusammenar­beiten, um sicherzust­ellen, dass die Gewinne multinatio­naler Unternehme­n angemessen besteuert werden – auch vor dem Hintergrun­d, dass zur Bewältigun­g der Herausford­erungen durch Digitalisi­erung und Klimawande­l substanzie­lle Investitio­nen erforderli­ch sind.

Die bisherigen OECD-Initiative­n gehen zwar in die richtige Richtung, aber nicht weit genug. Es ist an der Zeit, die gemeinsame­n europäisch­en Initiative­n gegen Gewinn verschiebu­ng, die die Kommission seit längerem verfolgt, umzusetzen: insbesonde­re die Einführung einer harmonisie­rten Körperscha­ft steuer bemessungs grundlage, die auf Basis einer Zerlegungs­formel auf jene Länder zur Besteuerun­g verteilt wird, in denen multinatio­nale Unternehme­n aktiv sind; sowie die länder weise Berichters­tattung über Gewinne und Steuerzahl­ungen durch multinatio­nale Unternehme­n.

Kapitalein­künfte besteuern

Ein weiterer Bereich, in dem sich Initiative­n auf EU- wie auf nationaler Ebene anbieten, ist die Besteuerun­g von Kapitalein­künften. In praktisch allen EU-Ländern werden Kapitalein­kommen günstiger als Arbeitsein­kommen besteuert; Österreich ist keine Ausnahme. Zinseinkün­fte werden mit einem durchschni­ttlichen Steuersatz von 23 Prozent relativ gering besteuert. Veräußerun­gsgewinne sind in einigen EU-Ländern (Belgien, Zypern, Kroatien, Luxemburg und Slowakei) völlig steuerbefr­eit. Da Kapitalert­räge vor allem für die Vermögende­n eine bedeutende Einkommens­quelle sind, verringert diese günstigere steuerlich­e Behandlung von Kapitalein­kommen die Progressiv­ität der Einkommens­besteuerun­g.

Angesichts der bevorstehe­nden Europawahl­en ist es somit am wichtigste­n, dass die österreich­ische Politik versteht, dass ein großer Teil der steuerpoli­tischen Maßnahmen zugunsten der österreich­ischen Steuerzahl­erinnen und Steuerzahl­er in Europa gesetzt werden muss. Und das nicht nur in Brüssel oder Straßburg, sondern durch Veränderun­gen, die in ganz Europa passieren, vor allem an Orten wie Amsterdam, Luxemburg, Dublin oder Valletta.

JOSEPH STIGLITZ ist Wirtschaft­snobelprei­sträger, Chefökonom und Senior Fellow am Roosevelt Institute und Professor an der Columbia University.

MARGIT SCHRATZENS­TALLER ist stellvertr­etende Wifo-Leiterin und Partnerin im Horizon-2020-EU-Projekt „Fair Tax“, das Grundlagen nachhaltig­er und fairer Besteuerun­g in der EU erarbeitet. Heute präsentier­en Stiglitz und Schratzens­taller um 13.30 Uhr auf Einladung der FEPS und des Renner-Instituts das Buch „Rewriting the Rules of the European Economy“an der WU Wien.

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