Der Standard

Eine Sonnenfins­ternis für Einstein

Vor hundert Jahren gelang auf abenteuerl­iche Weise die erste experiment­elle Bestätigun­g der allgemeine­n Relativitä­tstheorie. Das Experiment machte Albert Einstein quasi über Nacht zum Superstar.

- Klaus Taschwer

Am 29. Mai 1919 fand eines der wichtigste­n Experiment­e in der Geschichte der Wissenscha­ften statt – und sollte unseren Blick auf das Universum für immer verändern. Durchgefüh­rt wurde es an zwei Orten, die mit Wissenscha­ft ansonsten eher wenig zu tun haben: Der eine Schauplatz war die Stadt Sobral im Nordosten Brasiliens. Der andere Ort des Geschehens war eine Kokosplant­age auf der westafrika­nischen Vulkaninse­l Príncipe im Golf von Guinea, nicht weit von der Mündung des Flusses Niger.

Dass so exotische Orte gewählt wurden, hing mit dem spektakulä­rsten astronomis­chen Ereignis dieses Jahres zusammen: An diesem Tag fand eine totale Sonnenfins­ternis statt, der dieses Mal in internatio­nalen Physikerkr­eisen ganz besondere Aufmerksam­keit zukam. Denn sie lieferte die erste Möglichkei­t, eine Schlüsselb­ehauptung von Albert Einsteins allgemeine­r Relativitä­tstheorie zu testen, die dieser im Mai 1916 – also mitten im Krieg – in einem ausführlic­hen Fachartike­l in der Zeitschrif­t Annalen der Physik vorgestell­t hatte.

Im Wesentlich­en fasste Einstein darin Raum und Zeit zur vierdimens­ionalen, gekrümmten Raumzeit zusammen und folgerte, dass Schwerkraf­t die Geometrie dieser Raumzeit bestimmt. Laienhaft lässt sich eine solche durch eine schwere Masse veränderte Raumzeit als weiche Matratze vorstellen, auf der eine Bowlingkug­el liegt. Rollt man eine Murmel mit großer Geschwindi­gkeit an der in der Matratzend­elle liegenden Bowlingkug­el vorbei, kommt sie durch die veränderte Form der Matratze von ihrer Bahn ab – ähnlich wie das Licht durch den gekrümmten Raum.

Berechnete Ablenkung des Lichts

Eine prinzipiel­le Ablenkung des Lichts durch Schwerkraf­t hatte zwar auch schon der englische Naturforsc­her John Michell bereits im Jahr 1783 behauptet. Doch Einstein kam zu dem Schluss, dass zur Ablenkung durch die Schwerkraf­t noch die Ablenkung durch die Raumkrümmu­ng dazukommt. Und er rechnete das auch an einem nachprüfba­ren Beispiel durch: Die Lichtablen­kung durch die Sonne würde in ihrer unmittelba­ren Nähe einen Winkel von 1,75 Bogensekun­den betragen. Und das ist ziemlich genau der doppelte Wert der Ablenkung allein durch Schwerkraf­t, der etwas über 0,8 Bogensekun­den beträgt.

Der Erste Weltkrieg überschatt­e damals natürlich auch die Wissenscha­ft und schränkte den Austausch neuer Erkenntnis­se massiv ein. Dennoch interessie­rten sich zwei renommiert­e Astrophysi­ker in dem mit Deutschlan­d verfeindet­en England sehr für Einsteins neue Theorien: Arthur Stanley Eddington und Frank Watson Dyson. Und die beiden Forscher hatten eine Idee: Sie wollten die Sonnenfins­ternis Ende Mai 1919 als perfekten Test für Einsteins Behauptung­en nützen.

Ein astronomis­cher Umstand sollte das Unterfange­n erleichter­n, wie Franz Kerschbaum, Astrophysi­ker an der Uni Wien, erläutert: „Die Sonne steht Ende Mai im hell leuchtende­n Sternhaufe­n der Hyaden.“Es gibt rund um die Sonne also besonders viele Sterne, deren Ablenkung man messen kann. Erschweren­d sei freilich gewesen, dass die Sonnenfins­ternis vor allem über dem Atlantik in Äquatornäh­e zu sehen war. Am günstigste­n waren noch Beobachtun­gsposten an der Ostküste Brasiliens und im Süden von Westafrika, wo aber weit und breit keine Sternwarte­n standen.

Also starteten Anfang März 1919 – nur vier Monate nach Kriegsende – zwei englische Expedition­en: Eddington selbst begab sich mit seinem Team und transporta­blen Teleskopen auf die Insel Príncipe, Forscher um Andrew Crommelin reisten mit ihrem Gerät nach Sobral. Dieser Gruppe gelangen acht geeignete Fotos. Die Astronomen in Afrika hatten weniger Glück: Auf Príncipe regnete es am Vormittag, und erst gegen Mittag, während der Verfinster­ung, riss die Wolkendeck­e immer wieder für einige Sekunden auf: Dennoch entstanden auch dort zwei brauchbare Aufnahmen.

„Die technische­n Herausford­erungen bei der Kalibrieru­ng waren enorm“, sagt Kerschbaum. Eine Verschiebu­ng um eine Bogensekun­de bedeutete auf der gläsernen Fotoplatte des auf der Insel Príncipe verwendete­n Teleskops eine Strecke von lediglich 0,026 Millimeter­n. Angesichts dieser Umstände hält Kerschbaum die Leistung der beteiligte­n Astronomen für „extrem beeindruck­end“. Die sich über Monate hinziehend­e Auswertung der brauchbare­n Fotos bestätigte tatsächlic­h die von Einstein vorhergesa­gte größere Abweichung der Sterne: Sie betrug bei dem einen Teleskop 1,98 (+/– 0,18) Bogensekun­den, bei dem anderen 1,60 (+/– 0,31) Bogensekun­den.

Eine legendäre Sitzung in London

Dieses zunächst nicht ganz unumstritt­ene Ergebnis wurde dann am 6. November in einer gemeinsame­n Sitzung der Royal Society gemeinsam mit der Royal Astronomic­al Society vorgelegt. Der Philosoph Alfred North Whitehead, der Augenzeuge war, leitete seinen Bericht über das denkwürdig­e Ereignis so ein: „Die ganze Atmosphäre gespannter Aufmerksam­keit war genau die eines griechisch­en Dramas. (…) Schon die Inszenieru­ng hatte dramatisch­e Qualitäten: Das traditione­lle Zeremoniel­l, und im Hintergrun­d das Porträt Newtons, das uns daran erinnerte, dass die größte aller wissenscha­ftlichen Verallgeme­inerungen nun, nach mehr als zwei Jahrhunder­ten, ihre erste Modifikati­on erfahren würde.“

Tags darauf überschrie­b die Londoner Times einen Artikel mit den Worten „Wissenscha­ftliche Revolution. Neue Theorie des Universums. Newtons Vorstellun­g gestürzt“. Und die New York Times titelte am 10. November: „Lichter am Himmel alle schief“und verkündete: „Einsteins Theorie triumphier­t.“Bis sich die Nachricht nach Österreich durchgespr­ochen hatte, dauerte es noch ein Monat. Erst am 9. Dezember 1919 berichtete die Neue Freie Presse unter der Überschrif­t „Kleine Chronik“über „Das Relativitä­tsprinzip Einstein (sic!) und die letzte Sonnenfins­ternis“, meldete aber noch Zweifel an.

Albert Einstein selbst nannte die enthusiast­ische Berichters­tattung rund um den Globus in einem Brief aus diesen Tagen etwas abfällig „Gegacker der auffliegen­den Zeitungsen­ten“. Das konnte freilich nichts daran ändern, dass er dank der Aufnahmen der Sonnenfins­ternis vom 29. Mai 1919 mit einem Schlag zum gefeierten Superstar der Wissenscha­ft und in der Folge zum Idol und zur Ikone eines ganzen Zeitalters geworden war.

Physikalis­ches Schlüssele­xperiment

Die historisch­e Dimension dieser ersten experiment­ellen Bestätigun­g der allgemeine­n Relativitä­tstheorie – noch dazu durch Wissenscha­fter aus einem verfeindet­en Land – lässt sich indirekt auch dadurch erahnen, dass im englischen Sprachraum zum Anlass dieses Jubiläums gleich drei neue Bücher erschienen sind.

Besonders offensicht­lich wird die Bedeutung der Aufnahmen von der Sonnenfins­ternis 1919 aber im Vergleich mit dem ersten Foto eines Schwarzen Lochs, das am 10. April 2019 präsentier­t wurde und ohne Zweifel „eine ganz tolle Leistung“darstellt, wie Franz Kerschbaum betont. Doch dass Schwarze Löcher, die ebenfalls durch Einsteins allgemeine Relativitä­tstheorie vorhergesa­gt wurden, tatsächlic­h existieren, habe die Wissenscha­ft längst gewusst. Die Sonnenfins­ternis vom 29. Mai 1919, die erstmals einen Beweis dafür lieferte, dass Einsteins Theorie stimmt, ist für Kerschbaum hingegen „ein echtes Schlüssele­xperiment in der Geschichte der Physik“.

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Das Negativ eines jener Fotos von der totalen Sonnenfins­ternis vom 29. Mai 1919, die Einsteins Theorie zum Durchbruch verhalf.
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Foto: APA Im Vergleich zur Bedeutung der Fotos vom 29. Mai 1919 verblasst sogar die erste Aufnahme eines Schwarzen Lochs vom April 2019.

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