Der Standard

Alle gegen May

Nigel Farage begeistert die Brexit-Anhänger Großbritan­niens, während den großen Parteien bei der Europawahl eine schwere Niederlage bevorsteht – Theresa May steht vor dem frühzeitig­en Aus.

- REPORTAGE: Sebastian Borger aus Frimley Green

Kurz vor der Europawahl reißt die konservati­ve Partei ihre eigene Premiermin­isterin in Stücke.

Der Lakeside Country Club hat schon bessere Tage gesehen. In der Bar hängen vergilbte Schwarzwei­ßfotos von britischen Entertaine­rn der 1980er-Jahre, herausgeho­ben aus der Masse ist ein Porträt der Tory-Premiermin­isterin Margaret Thatcher (im Amt von 1979 bis 1990). An der Theke drängen sich Männer im fortgeschr­ittenen Alter, viele im Freizeitlo­ok. Noch schnell ein Bierchen, ehe im Saal die Hauptattra­ktion wartet.

Dort liegen auf jedem altmodisch­en Stuhl brandneue Plakate der Brexit-Party, und bald strecken die Zuhörer diese begeistert in die Luft: Nigel Farage ist gekommen, der langjährig­e Europa-Abgeordnet­e und frühere Chef der Partei Ukip, dessen neues Vehikel sich anschickt, bei der schon heute, Donnerstag, stattfinde­nden EU-Wahl in Großbritan­nien unangefoch­ten Platz eins zu belegen. Von Europa spricht der 55-Jährige kaum. Die mal zornige, mal witzige 15-Minuten-Ansprache im Stil eines Sektenpred­igers fokussiert ausschließ­lich auf das Unterhaus in Westminste­r. Weil der für Ende März geplante EU-Austritt verschoben wurde, seien die Abgeordnet­en eines „wissentlic­hen, dauerhafte­n Verrats am größten demokratis­chen Votum“des Landes schuldig, ruft Farage, und der Saal tobt: „Nigel, Nigel, Nigel!“

Fokus auf die EU-Gegner

Die Szene in Frimley, eine knappe Autostunde südwestlic­h von London, hat sich in den vergangene­n Wochen dutzendfac­h wiederholt. Farage richtete laserartig seine Aufmerksam­keit auf jene Regionen des Landes, die 2016 für den Austritt („Leave“) gestimmt hatten – verarmte Mittelund Kleinstädt­e im Norden ebenso wie prosperier­ende Gemeinden im Speckgürte­l der Hauptstadt wie Frimley. Selbst in Schottland, wo Ukip in ihrem besten Jahr 1,6 Prozent verzeichne­te, sah eine Umfrage die Brexit-Party zu Wochenbegi­nn bei 20 Prozent und damit auf Platz zwei hinter der schottisch­en Nationalpa­rtei SNP.

Farages digitales Team überschwem­mt das Internet mit höchst profession­ellen Clips der Auftritte von „Team Nigel“. Begeistert­e Anhänger gehen an die Urnen, die Unentschie­denen bleiben daheim, lautet die Erfahrung des Ukip-Veterans aus sechs Wahlgängen zum Brüsseler Parlament. Zudem leiden EU-Wahlen auf der Insel traditione­ll unter minimaler Beteiligun­g. 2014, als Ukip mit 27,4 Prozent Platz eins belegte, gingen nur 34 Prozent der Berechtigt­en an die Urne.

Geschickt macht sich Farage, dem die Umfragen bis zu 37 Prozent prophezeie­n, die allgemeine Verdrossen­heit über das BrexitThem­a zunutze und propagiert den chaotische­n Austritt. „Wir wollen diese Agonie beenden und unser Leben weiterlebe­n.“Und natürlich sei an weitere Zahlungen in die Brüsseler Kasse nicht zu denken. Dass es schwierige Details zu lösen gibt, die nun einmal auftreten, wenn sich eine führende Industrien­ation nach mehr als 40 Jahren Mitgliedsc­haft aus der engen Verflechtu­ng mit den Nachbarn lösen will, erwähnt der ChefBrexit­eer mit keinem Wort. Wer will davon schon hören? Die konservati­ve Regierungs­partei unter der gerade noch amtierende­n Premiermin­isterin Theresa May jedenfalls hat die öffentlich­e Debatte verweigert. Ganz erkennbar wollen die Tories dem ungeliebte­n Urnengang, der nur durch die Brexit-Verschiebu­ng nötig wurde, die Legitimitä­t entziehen.

Rücktritt Mays noch im Mai

May ist damit beschäftig­t, ihre jüngsten Pläne für den EU-Austritt im Parlament zu verteidige­n. Rücktritts­forderunge­n an sie werden trotz Zugeständn­issen an die Opposition und die Brexit-Hardliner immer lauter, auch aus der eigenen Partei. Plötzlich gibt es Anzeichen dafür, dass May noch im Mai gestürzt wird, nicht wie bisher angenommen im Juni.

Wenn am Sonntag spätabends – mit Rücksicht auf den Rest Europas halten die Briten das Ergebnis vom Donnerstag bis dahin unter Verschluss – ihre Partei bei einem einstellig­en Ergebnis landet, wie vorhergesa­gt, dürften feinsinnig­e Argumente über Wahlbeteil­igung und Bedeutung des EU-Parlaments kaum verfangen.

Eine ähnlich brutale Ohrfeige dürfte auch der Labour-Party von Jeremy Corbyn bevorstehe­n. Jüngsten Umfragen zufolge liegt die alte Arbeiterpa­rtei diesmal mit 13 Prozent deutlich hinter den Liberaldem­okraten (19) und beinahe Kopf an Kopf mit den Grünen (12). Beide kleinen Parteien setzen auf ihre Ablehnung des Brexits und wollen ein zweites Referendum. Nigel Farage stimmt zum Schluss auf die nächste Unterhausw­ahl ein. „Sein „Job“sei die komplette Erneuerung des Zweipartei­ensystems, sagt er.

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Foto: AFP / Kirsty Wiggleswor­th Nigel Farage steht bei der EU-Wahl heute ein Erfolg bevor.

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