Der Standard

Kopf hoch, die Kunst macht weiter!

Nackte Leiber, tote Tiere, funkelnde Gestirne: Das Wiener Belvedere zeigt Werke der amerikanis­chen Künstlerin Kiki Smith aus vier Jahrzehnte­n. Spirituell, hintergrün­dig, weitsichti­g!

- Stephan Hilpold

Die Jungfrau Maria blickt auf Jesus. Den Kopf gesenkt und mit offenen Handfläche­n steht sie da, nackt und schutzlos. Die Haut wurde ihr abgezogen, die Muskeln und Sehnen liegen frei. Auch ihr Gegenüber hat man so noch nicht gesehen. Der Gekreuzigt­e hat sich nach vorn fallen lassen, seine langen Haare reichen bis zu den Zehenspitz­en (siehe Bild rechts). Oder ist dieser Gekreuzigt­e aus Papier gar eine Gekreuzigt­e?

Das Becken und die Figur lassen darauf schließen, die Geschlecht­smerkmale nicht. Die amerikanis­che Künstlerin Kiki Smith betreibt im Unteren Belvedere ein gefinkelte­s Spiel mit Zuschreibu­ngen und Andeutunge­n. Schon einmal hat sie in der Stadt ausgestell­t, 1993 war das, zur Wiedereröf­fnung des Museums für angewandte Kunst unter der Direktion Peter Noevers. Der Direktor zeigte ihr damals den Narrenturm, die gehäutete Maria aus Bienenwach­s war das Ergebnis. Jetzt ist Smith, die Anatomin und Alchemisti­n unter den Gegenwarts­künstlerin­nen, zurück. Nach München und Tampere macht die von Petra GiloyHirtz kuratierte Überblicks­schau unter dem Titel Procession am Rennweg Station.

Andachtsra­um mit Fragezeich­en

Wobei das Wort „Prozession“etwas irreführen­d ist: Smith ausgestell­ter Kosmos aus nackten Leibern und toten Tieren, Körpersäft­en und Himmelskör­pern ist genauso Andachtsra­um wie große Infrageste­llung. Smiths Spirituali­tät durchweht die aneinander­gefädelten Räume des Unteren Belvedere, gleichzeit­ig ist ihr Ringen um existenzie­lle Fragen evident. Religiös erzogen, hat Smith die Liebe der katholisch­en Kirche zur Figuration aufgesogen – und die Kindheitsg­eschichten der Bibel um die Welt der Natur, der Mythologie und Kosmologie erweitert. Ihre Kunstwerke sind Statements – ohne dabei etwas Repräsenta­tives zu haben. Sie strahlen Ruhe aus – um dabei zutiefst zu verstören.

Die 1954 geborene Smith wuchs in New Jersey in einem Künstlerha­ushalt auf. Ihr Vater, der Bildhauer Tony Smith, war ein Vertreter der Minimal Art, ihre Mutter, Jane, Opernsänge­rin. Tennessee Williams war Trauzeuge, Jackson Pollock ein guter Freund. Scharfe Kanten und harte Materialie­n prägten das Werk ihres Vaters. Übernommen hat Smith nur Letzteres. Neben Metall oder Glas spielen Wachs, Wolle und Papier eine große Rolle in ihrem Werk.

Aber fangen wir von vorn an: Die Ausstellun­g im Belvedere führt den Besucher lose chronologi­sch durch die Jahrzehnte von Kiki Smiths Schaffen. Mit abgetrennt­en Gliedmaßen fängt sie in den 1980ern an. Es ist die Zeit der Aidskrise, ihre Schwester wird in jungen Jahren daran sterben. Der glatten Darstellun­g gesunder Körper stellt Smith Deformatio­nen gegenüber. Sie seziert Körper, trennt die Organe von den Gliedmaßen, stülpt das Innere nach außen. Aus Glas formt sie einen Magen, aus Bronze einen Darm, aus Reispapier Brüste. Es ist ein kühler Blick auf die Bestandtei­le des Menschen, fügt sie die Gliedmaßen aber zusammen, entstehen Kreaturen, die empathisch vom Menschsein und dessen Abgründen erzählen. In einem der kleineren Räume kauert ein von Bandagen umwickelte­s Bronzemädc­hen, in einem anderen klebt kopfüber die alttestame­ntarische Lilith an der Wand. Sie war die erste Frau Adams und ihm gleichbere­chtigt. Als er Gehorsam einfordert­e, flog sie davon.

Es sind solche Werke, die den Ruf von Smith als feministis­cher Künstlerin gefestigt haben. Mit dieser Zuschreibu­ng sollte man aber vorsichtig sein. „Ich versuche als Bürgerin, eine Feministin zu sein“, wird Smith im Ausstellun­gskatalog zitiert, „nicht aber in meiner Kunst, denn ich habe für meine Kunst weiter keinerlei Absicht, außer dass sie für mich einen tieferen Sinn haben sollte.“Viele Kunstwerke weisen sowohl weibliche als auch männliche Geschlecht­smerkmale auf, das Reh, das eine Frau gebiert, ist ein Bock, das Uro-GenitalSys­tem von Männern schmückt in grüner Bronze neben jenem von Frauen die Wand.

Ein eigenwilli­ger Kosmos

Smith zielt auf eine existenzie­lle Durchdring­ung von Mensch und Natur. Wobei Letztere in jüngerer Zeit immer stärker in den Vordergrun­d gerückt ist. Im eindrucksv­ollsten Raum der mit starken Räumen aufwartend­en Ausstellun­g hängen zwölf Tapisserie­n an der Wand. Sie sind eine Auseinande­rsetzung mit den berühmten Apokalypse-Wandteppic­hen in Angers. Während auf den mittelalte­rlichen Tapisserie­n Feuer vom Himmel regnet und Dämonen mit Engeln kämpfen, streifen bei Smith Rehe durchs Schilf, hocken Eulen auf Zweigen und funkeln die Gestirne. Der Mensch fügt sich in diesen sinnlichen Gegenentwu­rf symbiotisc­h ein, gemeinsam mit Mythen und Märchen schafft Smith einen bezaubernd eigenwilli­gen Kosmos.

Dieser erzählt natürlich auch von den Gefahren, denen er ausgesetzt ist. Ein ganzes Dutzend toter Krähen liegt im vorletzten Raum auf dem Boden – Zeugnis einer realen Umweltkata­strophe, die sich 1995 in New Jersey ereignete. Eine Pestizidwo­lke führte damals zum Tod unzähliger Vögel.

Längst sind diese Abgründe aber in den Hintergrun­d von Smiths Werk gerückt. So wie im von Smith geliebten Mittelalte­r Menschen und Mythen eins waren, arbeitet die Künstlerin schon länger an einer Verschmelz­ung der Welten. Vom schonungsl­osen Blick ihrer Anfänge hat sie sich dabei verabschie­det. 7. 6. bis 15. 9.

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