Job ohne Zeitzwang
Für „Die Partei“sitzt der deutsche Kabarettist Nico Semsrott nun als Abgeordneter im Europaparlament. Dort will er mit den Mitteln der Satire ernsthaft für Demokratie, Menschenrechte und gegen die Klimakrise eintreten. Die zentrale Zukunftsfrage sei, wie
Ein Familienbetrieb in Deutschland lässt zwölf Mitarbeiter nach der inneren Uhr arbeiten. Funktioniert das?
Der deutsche Kabarettist und Satiriker Nico Semsrott (33) zieht für die kommende Legislaturperiode ins EU-Parlament – für die „Die Partei“, die ihre Stimmen bei der EU-Wahl vervierfachen und ihre Mandate verdoppeln konnte. Der selbsternannte „Demotivationstrainer“will wie sein Parteikollege Martin Sonneborn ernste Themen mittels Humor und Satire jenen Menschen vermitteln, die sich sonst wohl von der Politik abwenden würden. Für den Kampf um „mehr Zärtlichkeit“und gegen die Klimakatastrophe gibt sich Semsrott motiviert – Letzteres sei eine Überlebensfrage.
Standard: Welche Fähigkeiten und Kompetenzen soll ein junger Mensch heute erwerben, um fit für die Zukunft zu sein?
Semsrott: Denken, denken, denken – also kreativ sein. Unbedingt neue Ideen entwickeln und diese annehmen können, weil die Entwicklungen so schnell vorangehen, dass man immer weiter lernen muss. Grundfähigkeiten sind wichtiger als Grundwissen. Und ich wünsche mir so sehr, dass es mehr psychologische Kompetenz gibt. Mehr Reflektionsvermögen: Was tue ich hier, was machen die anderen in der Gruppe? Wie können wir besser miteinander klarkommen? Am liebsten würde ich alle Menschen in ihrer Jugend schon einmal in Therapie schicken. Nicht weil es ihnen schlechtgeht, sondern weil es gut ist zu verstehen, welche Gefühle zu welchen Handlungen führen, was in einem passiert. Wenn das den Menschen beigebracht würde, würde auch die Politik anders aussehen.
Standard: Und vielleicht auch zu mehr politischer Teilhabe in Zukunft führen?
Semsrott: Absolut, ja. Meine Religion ist die Psychologie. Ich glaube, dass jeder an etwas glaubt. Man kann nicht nicht glauben, und meine Lehre ist die Psychologie, weil man etwas ausprobieren, beobachten und dann herausfinden kann – und diesen wissenschaftlichen Ansatz schätze ich sehr, denn die Psychologie kann uns am meisten über unser Verhalten erzählen.
Standard: Sie sprechen sich immer wieder für die Enttabuisierung psychischer Krankheiten wie Depressionen aus. Welche Tabus
müssen wir als Gesellschaft noch brechen?
Semsrott: Ich würde daran anschließen. Alles, was als Schwäche gesehen wird, Selbstzweifel et cetera. Ich rege mich gerade furchtbar über Kommentare zur Maischberger-Sendung auf, bei der ich kürzlich zu Gast war. Manche finden, ich hätte aggressiver sein müssen. Nö, muss ich überhaupt nicht. Ich muss mich dieser Konkurrenzgebarung und diesem Machogehabe nicht anschließen. Ich wünsche mir einen sanfteren und zärtlicheren Umgang miteinander. Auch wenn das wie ein Widerspruch klingt: Ich versuche mit aller Wucht und Härte, mehr Zärtlichkeit durchzudrücken.
Standard: Die Partei will Aufmerksamkeit für die aus ihrer Sicht wirklich wichtigen Themen schaffen. Welche sind das?
Semsrott: Es ist ja völlig klar, dass die Klimaerwärmung das Thema Nummer eins ist. Haben wir Lust zu überleben oder nicht? Haben wir Lust, den nachfolgenden Generationen einen Planeten zu hinterlassen, auf dem es nicht dauernd Kriege um knapper werdende Ressourcen gibt? Das ist unschlagbar Thema Nummer eins. Thema Nummer zwei hängt damit zusammen: Die Klimawandelleugner von rechts, die letzten Endes auch die Demokratie und den Rechtsstaat abbauen wollen, um dann den Unternehmen noch mehr Macht zu geben. Global gibt es momentan drei Machtzentren: China, die USA und Europa. Es geht eigentlich darum, sich für die europäische Demokratie zu engagieren und liberale Werte zu verteidigen. Und wenn wir schon bei Werten sind: Es geht darum, Menschenrechte zu verteidigen, nicht systematisch unterlassene Hilfeleistung an den Grenzen und im Mittelmeer zu betreiben und Helfende zu bestrafen.
Standard: Sie sagen, dass Ihnen das Fliegen oft ein schlechtes Gewissen beschert. In welchem Verhältnis sollen Eigenverantwortung und politische Vorgaben beim Klimaschutz stehen?
Semsrott: Ich bin davon überzeugt, dass wir Menschen ein Affenhirn haben, das die globale Skala nicht versteht. Es ist zu abstrakt, um ein eindeutiges Motiv zu haben, nicht zu fliegen oder vernünftige Dinge zu tun. Dafür braucht es eine kluge Politik und einen klugen Staat, der Motivation und Bestrafung gleichzeitig anbietet. Es muss Wege geben, CO2-ausstoßende Flugzeuge binnen weniger Jahre zu verbieten und bis dahin die Kosten zu erhöhen und neue Antriebstechniken zu fördern. Das Interesse gibt es aber nicht, weil Politik und Industrie so stark miteinander verwoben sind und Politiker zu viel Angst vor dem Arbeitsplatzargument haben. Mutige Schritte sind deshalb wohl demnächst nicht zu erwarten.
Standard: Welche technischen Errungenschaften bereiten Ihnen am meisten Sorge?
Semsrott: Die größte Sorge ist nicht die Technik an sich, sondern dass die Politik nicht ihre Aufgabe erfüllt und den Markt einfach machen lässt. Der Staatenverbund der EU hat natürlich die Macht, den Unternehmen vorzuschreiben, wie die Technik einzusetzen ist – wenn es um automatische Gesichtserkennung geht, um das Sammeln von Daten, Bewegungssensoren und dergleichen. All das kann und soll die EU im Sinne einer Bürgerrechtsunion verbieten. Ich habe Sorge, dass sich die Politik von Unternehmen kaufen lässt. Wählerinnen und Wähler haben ja keine richtige Lobby. Es gibt zwischen 20.000 und 30.000 Lobbyisten in Brüssel und 751 Parlamentarier. Das ist ein wenig ungerecht, noch dazu, wenn die Hälfte der Parlamentarier aufseiten der Unternehmen arbeitet.
Standard: Spricht die Politik heute noch die Sprache der Jugend?
Semsrott: Hat sie doch noch nie getan, sie spricht nicht einmal die Sprache normaler Menschen. Ich war kürzlich in einer Talkshow mit einem CDU-Ministerpräsidenten, der hat dort das Wort „Binnenpluralität“gesagt. Und ich dachte mir so: Wow, damit holst du die Leute ab, das zündet richtig. Ich will jetzt auch bald einmal ein Video zu Binnenpluralität machen, weil mich das so elektrisiert hat. Ich habe echt Angst, dass ich in diesem Politikbetrieb auch immer mehr mit Floskeln und Redewendungen rede und verlerne, einen geraden Satz zu sagen. Primär braucht es Inhalte, aber es braucht auch mehr Workshops für politische Kommunikation. Die Rechten und Rechtsradikalen haben das drauf in ganz Europa. Die Progressiven schlafen da immer noch. Und wir als Die Partei versuchen, dem etwas entgegenzusetzen.
Standard: Die Partei hat mehr als doppelt so viele Instagram-Follower wie
die nächstgroße Partei, die Grünen, und gibt dabei keinen Cent für Onlinewerbung aus.
Semsrott: Was wir posten, schaut man sich nicht nur freiwillig an, sondern schickt es auch noch Freunden weiter. Das ist eine völlig neue Herangehensweise an Politik. Aber nur weil es lustig ist, heißt es nicht, dass es weniger ernst ist. Im Gegenteil: Man kennt das auch aus Sendungen wie Willkommen Österreich oder von Josef Hader, da werden ernste Themen besprochen, nur attraktiv verpackt – auf Lacher ausgerichtet, aber sehr wohl mit Botschaften verknüpft.
Standard: Haben Sie politische Vorbilder?
Semsrott: Greta Thunberg, Alexandria Ocasio-Cortez und Pippi Langstrumpf. Die hat auch ihr Ding durchgezogen.
Es muss Wege geben, CO2ausstoßende Flugzeuge binnen weniger Jahre zu verbieten und neue Antriebstechniken zu fördern. EU-Abgeordneter Nico Semsrott
NICO SEMSROTT (33) ist ehemaliger Poetryslammer und Kabarettist. Er wurde durch politische Powerpointpräsentationen in der „Heute-Show“des ZDF bekannt und erreichte 2019 auf Listenplatz zwei der Partei „Die Partei“ein Mandat für das EU-Parlament.