Der Standard

Auseinande­rgehen ist schwer

Heute, Freitag, tritt die glücklose Theresa May als Chefin der heillos zerstritte­nen Konservati­ven Partei zurück. Großbritan­niens einstmals so stolze Traditions­partei steht aber auch ohne sie vor einem Scherbenha­ufen.

- ANALYSE: Sebastian Borger aus London

Allen hartnäckig­en Gerüchten zum Trotz sind Politiker auch nur Menschen. Und Theresa May und Emmanuel Macron mehr als nur Amtskolleg­en – nämlich auch Schicksals­genossen, die gute und schlechte Tage erwischen, scheitern, reüssieren, neu dazustoßen oder – so wie heute, Freitag, die britische Premiermin­isterin – zurücktret­en. Macron jedenfalls, als französisc­her Präsident selbst von Krisen gebeutelt, schien am Donnerstag seine Noch-Kollegin abseits des D-Day-Gedenkens am Strand der Normandie gebührend zu verabschie­den – und wer weiß, vielleicht auch ein klein wenig zu beneiden.

Am heutigen Freitag leitet Theresa May mit ihrem Rücktritt als Vorsitzend­e der Konservati­ven Partei Großbritan­niens auch offiziell den Abschied von der Macht ein. Im politische­n System der Insel muss Parteichef sein, wer der 62-Jährigen auch im Amt als Premiermin­isterin nachfolgen will. Regierungs­chef der siebtgrößt­en Volkswirts­chaft der Welt und eines der fünf permanente­n Mitglieder des UN-Sicherheit­srats zu sein, einer stabilen Demokratie mit globaler Perspektiv­e vorzustehe­n – das muss ein Traum sein für jedes der 650 Mitglieder des Unterhause­s, aus denen sich Mays Nachfolger rekrutiert.

Tatsächlic­h wollen elf Männer und Frauen den Posten ergattern, allen Nachteilen zum Trotz. Die fünf aussichtsr­eichsten Kandidaten heißen Andrea Leadsom, Jeremy Hunt, Michael Gove, Boris Johnson und Sajid Javid (siehe

Kurzporträ­ts unten). Immerhin erbt, wer Mitte Juli in der Downing Street einzieht, nicht nur die Codes für die britischen Atomrakete­n. Neben dem ultimative­n Symbol der Macht fällt dem Nachfolger

auch ein vergiftete­s, schier unlösbares Problem in den Schoß: Großbritan­niens unvollende­ter Austritt aus der EU.

Am Brexit ist May gescheiter­t, und die zentrale Fragestell­ung britischer Politik überschatt­et unweigerli­ch auch die Amtszeit des oder der nächsten Tory-Vorsitzend­en. Viel unmittelba­rer wird es dabei auch um die Frage gehen, ob der nächste Chef auch der letzte sein wird. Bei der Kommunalwa­hl in England Anfang Mai handelten sich die Tories eine gewaltige Ohrfeige der Wähler ein, landeten bei 28 Prozent und verloren mehr als 1300 Stadt- und Gemeinderä­te. Drei Wochen später verpassten die Wähler der Regierungs­partei bei der EU-Wahl praktisch einen Knock-out: 9,2 Prozent der Stimmen stellten das niedrigste Ergebnis seit mehr als 150 Jahren dar.

Premieren noch und nöcher

Man rechnet in diesen Dimensione­n bei einer Gruppierun­g, deren Anfänge auf die Regierungs­zeit Charles’ II. (1660–85) zurückgehe­n und die sich stolz „älteste Partei der Welt“nennt. Die Tories bescherten der Nation mit BenjaWar, min Disraeli (1874–80) den ersten, wenn auch konvertier­ten Juden im Amt des Premiermin­isters. Sie stellten in Margaret Thatcher (1979–90) die erste Frau als Regierungs­chefin. In den 123 Jahren zwischen Disraelis Triumph 1874 und der Abwahl von Thatchers Nachfolger John Major 1997 waren die Tories 84 Jahre an der Macht, entweder allein oder in Koalitione­n. Nach einer Durststrec­ke von 13 Jahren Opposition – so lang wie zuletzt im 18. Jahrhunder­t – haben seit 2010 erneut Konservati­ve – David Cameron bis 2016, seither May – in der Downing Street residiert.

Im langfristi­gen Zwei-Parteiensy­stem der Insel verkörpert­en die Konservati­ven lange Zeit das schwer definierba­re Konzept des Common Sense. Man billigte ihnen einen skeptische­n Respekt vor Traditione­n zu, gleichzeit­ig ein instinktiv­es Verständni­s der Realität und blitzschne­lle Anpassungs­fähigkeit. „Über die Tories wurde immer gesagt: Sie stellen die Regierung, oder sie stellen gar nichts dar“, weiß Geoffrey Wheatcroft. „Regieren war ihre Raison d’être.“

wohlgemerk­t. Schon 2005 legte der Autor ein Buch mit dem Titel The Strange Death of Tory

England vor. Die dort beschriebe­nen Trends hat Wheatcroft erst kürzlich wieder aufgezählt. Hatten die Konservati­ven in vier Jahrzehnte­n bis 1992 bei acht von zwölf Unterhausw­ahlen die Mehrheit der Mandate geholt, gelang dies seither nur ein einziges Mal in sechs Anläufen.

Die vom Brexit überschatt­ete Wahl 2017, als May ihre Mehrheit einbüßte, bestätigte langfristi­ge Probleme. Den Tories laufen die Frauen davon. Die Jungwähler orientiere­n sich an der LabourOppo­sition unter Jeremy Corbyn, wählen Liberaldem­okraten oder Grüne. Sind die Konservati­ven also eine Zombiepart­ei für die demnächst Toten?

Alt, männlich, weiß

Überaltert sind sie – und massiv zusammenge­schrumpft. In den 1950er-Jahren, hat Wheatcroft ermittelt, zählte die Partei 2,7 Millionen Mitglieder. Zuletzt galt ein Zustrom von rund 40.000 Menschen auf nunmehr 160.000 Mitglieder als Riesenerfo­lg. Deren Durchschni­ttsalter beträgt einer Studie der Londoner QueenMary-Universitä­t 57 Jahre. Sie sind reicher als der Durchschni­tt der Bevölkerun­g und fast ausschließ­lich weiß.

Vor allem aber: Ihre Gegnerscha­ft zur EU ist viel radikaler als in der Parlaments­fraktion, geschweige denn in der Bevölkerun­g. Die neuen Tories dürften den Trend verstärken, jedenfalls berichtete­n eine Reihe von Abgeordnet­en übereinsti­mmend von Masseneint­ritten durch frühere Mitglieder der EU-feindliche­n Ukip-Partei.

Dieses Phänomen verstärkt den Druck auf Mays Nachfolgek­andidaten, dem chaotische­n Brexit ohne Austrittsv­ereinbarun­g (No Deal) das Wort zu reden. Doch was dann? „Über Nacht würden wir unsere in 300 Jahren erworbenen Ruf für wirtschaft­liche Kompetenz für immer ruinieren“, fürchtet Rory Stewart, der als einziger der Kandidaten für einen Kompromiss-Brexit eintritt. Beim Parteivolk hat er damit keine Chance. Dem Entwicklun­gshilfemin­ister bleibt, so scheint es, ein Himmelfahr­tskommando erspart.

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 ??  ?? Theresa May, hier anlässlich der D-Day-Feier im südenglisc­hen Portsmouth, ist am Brexit gescheiter­t. Ihrer Partei drohen auf lange Sicht die Wähler wegzusterb­en.
Theresa May, hier anlässlich der D-Day-Feier im südenglisc­hen Portsmouth, ist am Brexit gescheiter­t. Ihrer Partei drohen auf lange Sicht die Wähler wegzusterb­en.

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