Der Standard

Erdogan reagiert mit Justizrefo­rm auf verheerend­en EU-Bericht

Weil mangelnde Rechtsstaa­tlichkeit langsam die Wirtschaft schädigt, prescht Justizmini­ster Gül vor – Kritiker haben Zweifel

- Philipp Mattheis aus Istanbul

We miss Turkey“– Wir vermissen die Türkei. Das konnte man um den 29. April auf Social-Media-Plattforme­n wie Twitter und Instagram lesen.

Mit der Kampagne verschiede­ner NGOs war das Internetle­xikon Wikipedia gemeint. An diesem Tag jährte sich die Sperrung der Website in der Türkei zum zweiten Mal. Die Ursache: Präsident Tayyip Erdogan hatte von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales die Löschung kritischer Artikel gefordert, die nahelegten, dass die Türkei Terrororga­nisationen wie den IS mit Waffen unterstütz­t haben soll. Wales hatte entgegnet, dazu

sei er gar nicht berechtigt. Seitdem ist die Seite innerhalb der Türkei, neben zahlreiche­n anderen regierungs­kritischen Websites, nicht mehr aufrufbar. Das könnte sich nun ändern. Zumindest verspricht das eine kürzlich vom Präsidente­n angekündig­te Justizrefo­rm, mit der Erdogan vordergrün­dig insbesonde­re die Meinungsfr­eiheit stärken will.

Insgesamt umfasst das am vergangene­n Freitag vorgestell­te Paket 356 Einzelmaßn­ahmen und klingt zunächst einmal sehr vielverspr­echend. So soll die Zahl der Häftlinge, die sich in Untersuchu­ngshaft befinden, verringert werden. Gegen Folter soll härter vorgegange­n werden, Richter nicht mehr gegen ihren Willen in entlegene Provinzen versetzt werden, Kurse in Sachen Menschenre­chte für Mitglieder des Justizappa­rats organisier­t werden. Ebenso sollen Blockaden von Websites auf ihre Notwendigk­eit hin geprüft werden.

Reaktion auf Kritik aus EU

Die Regierung habe mehr als ein Jahr an dem Bericht gearbeitet und 20.000 Anwälte und Rechtsexpe­rten befragt, erklärte Justizmini­ster Abdullah Gül. Mit den Maßnahmen befinde sich die Türkei wieder in einer Linie mit den Anforderun­gen des EU-Beitrittsp­rozesses. Auch der Vorsitzend­e der Anwaltskam­mer, Metin Feyzioglu, bestätigte das. So weit, so gut.

Es scheint, als reagiere Erdogan nun auf den jüngsten Bericht der EU-Kommission, der der Türkei erhebliche rechtsstaa­tliche Mängel vorwirft. Der bescheinig­t dem Land seit der Aufnahme von Beitrittsg­esprächen im Jahr 2005 schwere Rückschrit­te hinsichtli­ch Rechtsstaa­tlichkeit und fundamenta­le Menschenre­chte.

Seit dem Putschvers­uch vom 15. Juli 2016 wurden zehntausen­de mutmaßlich­e Anhänger der Gülen-Bewegung verhaftet. 57.000 Menschen befinden sich demnach zurzeit ohne Anklage in Haft. Der Bericht der EU-Kommission spricht von „schweren Bedenken“hinsichtli­ch der Folter in Gefängniss­en. Seit dem Jahr 2017 wurden allein 70.000 Verfahren wegen Präsidente­nbeleidigu­ng eröffnet – dafür genügte teils ein abfälliger Kommentar auf Twitter.

Veränderun­gen sind also bitter notwendig. Auch für Investoren und internatio­nale Geldgeber ist Rechtsstaa­tlichkeit ein wichtiges Kriterium für Investitio­nssicherhe­it. Und doch geht das Paket am eigentlich­en Problem vorbei. Denn tatsächlic­h garantiert die meisten dieser Punkte die türkische Verfassung ohnehin. Es hapert nur massiv an der Umsetzung.

Kritiker, etwa der Vorsitzend­e der Anwaltsver­einigung von Izmir, Ozkan Yücel, sagen deshalb: „Eine Justizrefo­rm wird nicht durch einen neuen Bericht auf den Weg gebracht. Sie geschieht durch die Umsetzung des Gesetzes.“ INTERNATIO­NAL

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