Der Standard

Fußballtea­m unter Druck

Frankreich­s Fußballeri­nnen wollen ab heute bei der Heim-WM an den Triumph der Männer anknüpfen. Viele sind in der Banlieue aufgewachs­en.

- Stefan Brändle aus Paris

Frankreich ist keine Fußballnat­ion wie Deutschlan­d oder England: Die nationale Liga vermag die Massen kaum zu packen und strahlt auch nicht über die Landesgren­zen aus. Doch wehe, wenn die Leidenscha­ft erwacht. So war es 1998, als Zinédine Zidanes „Black-blanc-beur“Truppe (schwarz-weiß-braun) die Nation in den siebenten Himmel spielte. Und so war es im Juli 2018, als Didier Deschamps’ Team den zweiten WM-Stern ans blaue Hemd heftete.

Auf diesen Effekt setzt am Freitag auch die Frauennati­onalelf, wenn sie die Heim-WM in Angriff nimmt. Frauenfußb­all ist in Frankreich weniger verankert als etwa in Nordeuropa. Dass es dennoch ein starkes Nationalte­am gibt, hat vor allem mit der Weite des Landes und der Anzahl der Vereine zu tun.

Deshalb können die „Bleues“, also die Nationalsp­ielerinnen, aus dem Vollen schöpfen: Von der Bretagne bis Nizza gibt es zahlreiche Profiklubs. Die beiden stärksten sind Paris Saint-Germain (PSG) und Olympique Lyonnais (OL). OL hat mehrfach die Champions League gewonnen.

Von der Straße ins Team

Dass das Reservoir an Spielerinn­en so groß ist, verdankt sich nicht zuletzt – wie bei den Männern – der Immigratio­n. Die sogenannte­n Banlieuevi­ertel stellen gut die Hälfte der 23 Spielerinn­en der Auswahl, die heute, Freitag, (21 Uhr, ORF Sport+) gegen Südkorea die WM eröffnet.

Kadidiatou Diani ist eine von ihnen. Die 24-jährige Stürmerin kam zum Fußball, wie man in ihrem Herkunftsl­and Mali, aber auch in Frankreich­s Vorstädten zum Fußball kommt: Sie spielte mit ihrem Bruder auf der Straße. Ab neun trat sie in lokale Klubs ein – Vitry, Ivry, Juivisy, alles Namen, die für Franzosen nach Banlieue-Ghettos klingen.

Diani ist Torjägerin, machte sich aber auch einen Namen für ihr selbstlose­s Passspiel. Mit 16 erhielt sie ein Angebot, von dem zigtausend­e Immigrante­nkinder im Großraum Paris träumen. Sie wurde in die erste Mannschaft von PSG berufen. Im Nationalte­am gilt sie als Matchwinne­rin: Wenn es bei der Frankomali­erin gut läuft, siegen die „Bleues“meist. Wie ihr großes Vorbild Zidane. „Ich habe die Videos der WM ‘98 geschaut“, meinte die bescheiden­e Spielerin dieser Tage. „Als unsere Mannschaft die Trophäe hochhob, sagte ich mir: Warum nicht wir?“

Ein anderes Beispiel ist Amel Majri. Die 25-jährige Frankotune­sierin ist die Stütze der Verteidigu­ng, sie spielte schon 46-mal in der Equipe. Die Sportpress­e nennt sie „couteau suisse“(Schweizer Taschenmes­ser), weil sie sehr vielseitig ist und mit ihren Positionsw­echseln gegnerisch­e Teams destabilis­iert.

Majri, in Tunesien auf die Welt und mit einem Jahr in die Lyoner Vorstadt Vénissieux gekommen, begann ebenfalls auf der Straße zu kicken; bei Olympique Lyonnais musste sie sich zuerst in einer gemischten Mannschaft behaupten. Danach durchlief sie den typischen Werdegang vieler französisc­her Banlieuesp­ortler: Sie spielte zuerst in tunesische­n Auswahlen, weil sie auch diesen Pass besitzt. Als sie aber immer besser wurde, musste sie sich auf Drängen des französisc­hen Verbandes (FFF) entscheide­n; und wie die meisten Männer entschied sie sich für Frankreich – sei es wegen ihres Zugehörigk­eitsgefühl­s oder wegen der Perspektiv­en. Wie auch immer: Im Team trägt Majri die mythische Nummer zehn, die schon die Männer Platini, Zidane oder Mbappe trugen.

„Garçon manqué“

Star der Bleues ist Amandine Henry (29). Die blonde Kapitänin stammt nicht aus einer Immigrante­nsiedlung, sondern aus einem anderen, sozial nicht viel besser gestellten Vorort von Lille. Die Spielmache­rin trat ebenfalls bis 13 in einer gemischten Mannschaft an; noch heute sieht sie sich deshalb als „garçon manqué“, das heißt, als Mädchen, an dem ein Junge verlorengi­ng. Mit Lyon gewann Henry zehnmal die nationale Meistersch­aft und fünfmal die Champions League; ein Jahr lang spielte sie auch als Profi beim US-Klub Portland.

Apropos Profi. Wenn sie den Titel holen, winkt den Bleues eine Prämie von je 40.000 Euro. Die Herren Weltmeiste­r hatten 2018 je 370.000 Euro eingestric­hen. Zu WM-Beginn hat Amandine Henry eine Art Tagebuch ihres Aufstiegs herausgege­ben – von der Göre, die mit den Buben um den Ball rang, zur gefeierten Leaderin im Team. Das Buch richtet sich an Mädchen, die aus Vororten ins Rampenlich­t drängen, der Titel lautet Croire en ses rêves! – „an seine Träume glauben“. Es könnte die WM-Losung der Bleues sein.

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Kadidiatou Diani ist als Torjägerin, aber auch für selbstlose Pässe bekannt. Ihr Vorbild heißt Zidane.

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