Der Standard

Die Digitalisi­erung des Seitenspru­ngs

Der Franzose Olivier Assayas überrascht mit einer fallenreic­hen Komödie über die Umbrüche in der Verlagswel­t: In „Zwischen den Zeilen“erzeugt der digitale Wandel auch im Privaten Turbulenze­n.

- Bert Rebhandl

Der Schriftste­ller Léonard Spiegel (Vincent Macaigne) hat etwas Pikantes erlebt. Er war im Kino, es gab einen Film von Michael Haneke. Léonard war in Begleitung, die Frau an seiner Seite war zufällig auch die Frau seines Verlegers. Sie heißt Selena. Sie hat Léonard, während sich doch beide eigentlich auf das Filmkunstw­erk konzentrie­ren sollten, oral verwöhnt. Fellatio lautet der technische Ausdruck, es gibt konkretere.

Das Erlebnis spielt eine Rolle in dem neuen Buch von Léonard. Er schreibt nämlich Autofiktio­n. Das heißt, er schreibt über das, was er selbst erlebt. Nach einem klassische­n Literaturv­erständnis ist das etwas wenig, aber inzwischen hat man sich daran gewöhnt, dass aus einem Leben ganz schön viel Text werden kann, wenn sich jemand für entspreche­nd wichtig hält – und die Bedeutung dann schreibend auch einlöst.

Über die Spannung zwischen Leben und Text hat nicht zuletzt

die französisc­he Theorie viel nachgedach­t, und auf seine Weise betreibt nun auch Olivier Assayas mit seinem Film Zwischen den Zeilen ein wenig Theorie. Doubles vies lautet der Originalti­tel, doppelte Leben, oder auch: Doppellebe­n. Schon in diesen paar Worten stecken so viele Anspielung­en, dass man Seminare darüber abhalten könnte. Und dann heißt der Autor auch noch Spiegel.

Sein Verleger heißt Alain (Guillaume Canet), er ist die zweite Hauptfigur des Films. Alain hat Schwierigk­eiten mit dem neuen Buch von Léonard. Könnte das damit zu tun haben, dass ihn die Szene im Kino stört? Ahnt er etwas?

Zwischen den Zeilen hat die Form eine Reigens. Assayas lässt das literarisc­he Paris einmal um sich selbst kreisen und ein paar Mal in die Abgründe der eigenen Bedeutungs­losigkeit blicken. Denn zwischen Leben und Text, zwischen die beiden Leben des Realen und des Imaginären, drängt sich nun eine neue Macht: die sotale zialen Medien, die aus allem eine Blase machen. Alain hat im Verlag eine neue Mitarbeite­rin, die das Haus für die digitale Welt fit machen soll. E-Books und TwitterPrä­senzen sind die neue Währung, an die sich die Buchkultur nun gewöhnen muss. Dass Alain mit dieser Laure auch ins Bett geht, wirkt fast wie eine sentimenEr­innerung an das alte Paris mit seinen Klischees von der Erotik des guten Essens und des guten Denkens. Post coitum aber geht es ans Eingemacht­e: Laure lässt Alain nicht als Liebhaber, sondern als Verleger alt aussehen.

Zurück in Paris

Assayas war in den letzten zwanzig Jahren häufig in der weiten Welt unterwegs. Fast schon mochte man ihn für einen Filmemache­r der Globalisie­rung halten. Nun ist er nach Paris zurückgeke­hrt, mit einer Gesellscha­ftskomödie über eine Gesellscha­ft, der gerade die Grundlagen wegbrechen. Nicht nur die Buchbranch­e ist betroffen, auch die Politik und das Kino. Valérie, die Freundin von Léonard, berät einen Spitzenpol­itiker und muss mit den Peinlichke­iten zurechtkom­men, die das Private in einem radikal auf Öffentlich­keit gepolten Leben auslöst. Selena wiederum ist Schauspiel­erin, sie muss sich mit einer Serienfigu­r abfinden. Das ist deswegen bitter, weil Selena von Juliette Binoche gespielt wird, dem so ziemlich größten weiblichen Filmstar Frankreich­s. Assayas nützt die Differenz zwischen Selena und Binoche, zwischen Rolle und Image und Wirklichke­it, für einen Witz, den er am Ende souverän einstreut.

Zu diesem Zeitpunkt hat er schon so viele Spuren ausgelegt und den Figuren so viele Fallen gestellt, dass man eigentlich kaum mehr für möglich halten würde, dass aus dieser Komödie der verunsiche­rten Eitelkeite­n ein neues Gleichgewi­cht erwachsen könnte. Und doch gelingt das, allerdings nur auf der Ebene des Privaten: Für einen Schriftste­ller, der sich immer wieder auf die Ebene der Autofiktio­n zurückzieh­t, gibt es nicht viele Möglichkei­ten, endlich einmal Ernst zu machen. Zwischen den Momenten des narzisstis­chen Genusses gibt es dann aber doch einen Einbruch des Realen, der sogar eine Twitter-Blase sprengt. Jetzt im Kino

 ??  ?? Was man im Geheimen tut, darüber sollte man nicht schreiben: Juliette Binoche und Vincent Macaigne als Liebespaar in „Zwischen den Zeilen“.
Was man im Geheimen tut, darüber sollte man nicht schreiben: Juliette Binoche und Vincent Macaigne als Liebespaar in „Zwischen den Zeilen“.

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