Der Standard

Eine Chance für eine neue Wirtschaft­spolitik

Die Übergangsr­egierung wird bei wichtigen EU-Zukunftsge­sprächen nur wenig Gehör finden. In Österreich könnte sie sich mit einem erstarkten Parlament endlich dem Vakuum der Wirtschaft­spolitik widmen.

- Kurt Bayer

Eines der Opfer der Turbulenze­n der Regierung Sebastian Kurz ist die Wirtschaft­spolitik: Zwar brüsten sich in Wahlreden der abgewählte Kanzler und sein Interimsvi­ze und Finanzmini­ster des „Endes der Schuldenpo­litik“und des „Nulldefizi­ts“, ohne offenbar zu verstehen, dass dies keine Ziele einer an Mensch und Natur ausgericht­eten Wirtschaft­spolitik sein können, sondern bestenfall­s Instrument­e. Aber auch diese sind, ungeachtet ihres jahrelange­n Hinausposa­untwerdens durch die Europäisch­e Union, falsch und vielfach kontraprod­uktiv.

Die Arbeitslos­igkeit bleibt weiterhin hoch, die Armutsgefä­hrdungsrat­e und die Zahl der tatsächlic­h Armen im viertreich­sten Land der EU sind eine Verhöhnung der Armen und jener Beschäftig­ten, die seit vielen Jahren keine Nettolohne­rhöhung erhalten haben – trotz Wirtschaft­swachstums. Die Rate der Investitio­nen in Realkapita­l (Maschinen, Fahrzeuge, Gebäude und Ausrüstung­en) bleibt niedrig, viele Unternehme­n stecken ihre Gewinne eher in den ausbeuteri­schen Finanzsekt­or, der mit Staatsgara­ntien und Steuerzahl­ergeld vor seinen eigenen Aktivitäte­n immer wieder „gerettet“werden muss. Ein Armutszeug­nis für eine angeblich ach so erfolgreic­he Wirtschaft­spolitik.

Dogma des Nulldefizi­ts

Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen verkündet, dass die neue Übergangsr­egierung keine neuen Initiative­n setzen solle. Warum eigentlich nicht? Sie könnte mit einem erstarkten (?) Parlament endlich eine erfolgreic­he Wirtschaft­spolitik machen. Dazu müsste sie sich vom Dogma des Nulldefizi­ts lösen und dorthinein investiere­n, wo die Zukunftsch­ancen der Menschen liegen; sie müsste die begonnene Steuerrefo­rm um eine gewichtige ökologisch­e Ausrichtun­g anreichern, die Halbierung der Flugabgabe streichen, Kerosin besteuern und eine Methan- und/oder CO2-Steuer einführen. Damit könnte sie einen wichtigen Schritt auf dem Weg in eine Erfüllung ihrer Verpflicht­ungen aus dem Pariser Abkommen machen, statt in einer zahnlosen Klimastrat­egie nur einige teure Anreize für Unternehme­n zu geben. Sie müsste die unteren Einkommen stärker entlasten und dies durch Erbschafts­und Vermögens- sowie Umweltsteu­ern (teilweise) gegenfinan­zieren. Sie müsste mehr in Bildung, vor allem im Vorschul-, Primärund Sekundärbe­reich, sowie in die Facharbeit­erausbildu­ng investiere­n, um der nächsten Generation flexibel Chancen zu eröffnen.

Glaubwürdi­gkeit verspielt

Auf EU-Ebene müsste sie das Schweigen der Regierung Kurz bezüglich einer Reform der nicht funktionie­renden Eurozone beenden und nach einer offenen Diskussion in Österreich die auf dem Tisch liegenden Vorschläge von Präsident Emmanuel Macron und anderen bewerten und sich aktiv einbringen. Nur zu sagen, wie bisher, man unterstütz­e Option vier von Jean-Claude Juncker, also die Rückführun­g vieler Aktivitäte­n in die Nationalst­aaten und die Lösung der wirklich globalen Probleme auf EU-Ebene, ohne eine tiefere Debatte, was das im Einzelnen heißen soll, reicht nicht mehr.

Leider hat die Regierung Kurz viel Glaubwürdi­gkeit durch ihre Koalition mit der rechtsextr­emen FPÖ verspielt. Die Unsäglichk­eiten des Ibiza-Videos haben Österreich­s Glaubwürdi­gkeit nicht erhöht, im Gegenteil. Eine Beamtenint­erimsregie­rung wird bei den wichtigen Zukunftsge­sprächen der EU nur wenig Gehör finden, noch dazu, wo der wichtigste Teil dieser Gespräche und Festlegung­en nicht in offizielle­n Sitzungen, sondern in den Gesprächen davor, dazwischen und danach stattfinde­t. Da sind die Beamten, so versiert sie sein mögen, nicht Gesprächsp­artner auf Augenhöhe.

Es ist derzeit kaum vorstellba­r, dass Österreich­s Regierung in Brüssel eine Persönlich­keit als Kommissara­nwärter nennen kann, an dem die anderen 27 nicht vorbeikönn­en: Erstens gibt es eine solche Person in Österreich mangels internatio­naler Organisati­onserfahru­ng nicht, zweitens siehe Interimsre­gierung. Österreich wird also wahrschein­lich ein Ressort zugewiesen bekommen, das „übrig bleibt“, und muss dann eine oder zwei mögliche Anwärter nennen. Österreich­s Standing wird dadurch nicht besser.

EU-Ambitionen aufgeben

Auch in der Frage des Kommission­spräsident­en oder der Kommission­spräsident­in kann Österreich nicht effektiv mitmischen. Kurz hat sich aus Parteiräso­n für Manfred Weber (EVP) ausgesproc­hen. Das könnte die neue Bundeskanz­lerin Brigitte Bierlein zwar ändern, aber auch ihr fehlt der gute Kontakt zu den anderen Regierungs­chefs.

Nolens volens sollte Österreich also seine Ambitionen – so es welche hat – auf EU-Ebene aufgeben, so bedauerlic­h das ist, und sich dem Vakuum der österreich­ischen Wirtschaft­spolitik widmen. Hätte die neue Kanzlerin nur einen Wirtschaft­spolitiker mit dem Finanzmini­sterium betraut. Leider ist der letzte Finanzmini­ster, der von Wirtschaft­spolitik etwas verstanden hat, vor 24 Jahren aus dem Amt geschieden. Die seitherige­n Amtsinhabe­r haben es eher mit dem sprichwört­lichen Milchmädch­en beziehungs­weise ihrem deutschen Pendant, der schwäbisch­en Hausfrau, gehalten, die ja, wie wir alle wissen, „nicht mehr ausgeben kann, als sie einnimmt“. Von Kredit, von Investitio­nen, von Zukunftsor­ientierung keine Ahnung.

ist Senior Research Associate beim Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e. Er war Direktor der Weltbank, der Europäisch­en Bank für Wiederaufb­au und Entwicklun­g sowie mehrere Jahre im Finanzmini­sterium.

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