Der Standard

Den Vater töten

Eine Heldin, die den Vater töten will und in das literarisc­he Gedächtnis eingehen wird: Angela Lehners brillantes Debüt „Vater unser“.

- Andrea Heinz

Es ist selten, dass man solche Bücher in die Hände bekommt – erst recht solche Debüts. Schon auf den ersten Seiten hat einen Angela Lehners Vater unser für sich eingenomme­n. In einem ganz eigenen, unverwechs­elbaren und doch völlig unstilisie­rt wirkenden Tonfall berichtet die Ich-Erzählerin Eva da, wie sie von der Polizei in das psychiatri­sche Zentrum Otto-Wagner-Spital (kurz: OWS) gebracht wird. Wie sie ihren Wunsch äußert, etwas zu trinken. „Keine Reaktion. Das ist mir unangenehm. Ich warte eine halbe Stunde und versuche es noch einmal. ‚Verzeihung‘, sag ich, ‚Durst.‘ ‚An Durst hat s’‘, vernehme ich eine Stimme aus der Fahrerkabi­ne. ‚Ah, iatz hat s’ an Durst?‘, sagt eine andere. ‚Richtig‘, sag ich, ‚einen Durst hab ich.‘ Die Polizisten bemurmeln sich untereinan­der. Von vorne höre ich ein ‚In Ordnung‘. In Ordnung, denke ich mir, ist doch ganz in Ordnung, diese Polizei. Was haben denn immer alle?“Man möchte endlos zitieren, wie diese Eva den Wahnwitz des Alltäglich­en beschreibt. Wobei sich sehr bald die Frage stellt, ob dieser Ich-Erzählerin überhaupt zu trauen ist.

Aufgewachs­en ist sie in einem tiefkathol­ischen Kärntner Dorf. Mehrmals taucht das Bildnis Jörg Haiders in Verbindung mit Rosenkränz­en auf, das erste Mal in einer Tankstelle auf der Fahrt ins Spital. „‚Mein Gott‘, sag ich, ‚sind wir in Kärnten?‘“Eingeliefe­rt wird Eva, weil sie behauptet, eine Kindergart­enklasse erschossen zu haben. Aber schon die Kinder in ihrer Volksschul­klasse wussten: Die Eva lügt immer. Im OWS trifft sie auf ihren jüngeren Bruder Bernhard, schwere Magersucht. Eva behauptet, ihm helfen zu wollen. Bernhard versucht panisch, vor ihr davonzulau­fen. Dem Psychiater erzählt sie, dass die Eltern tot sind, der Vater habe sich umgebracht, die Mutter lebe auch nicht mehr. Gleichzeit­ig verfolgt sie die fixe Idee, man müsse den Vater ermorden, um den Sohn zu retten. Und wieso taucht die Mutter immer wieder im Spital auf?

Charmante Verrückte

Nicht nur die Figuren im Roman, die spitalseig­ene Nagelpfleg­erin etwa, die ihr unter Tränen ihr Auto anvertraut, gehen Eva auf den Leim. Auch als Leserin erliegt man ihren Manipulati­onen, ihrem Witz, sogar ihrer Gemeinheit. Klar, sie beschimpft andere Spitalsins­assen (von ihr als „Irre“tituliert, wobei sie sich selbst einschließ­t), hilft einer suizidalen jungen Frau, ihre Entlassung herbeizulü­gen, weil sie sie als Konkurrenz um die Aufmerksam­keit des Bruders sieht – aber irgendwie wirkt diese charmante Verrückte doch ganz vernünftig.

Angela Lehner, selbst 1987 in Kärnten geboren, erschafft in ihrem Debüt eine Frau, die einem noch lange im Kopf herumspukt. Womöglich sogar eine Figur, die in das literarisc­he Gedächtnis dieses Landes eingehen wird. Bemerkensw­ert ist das nicht nur deshalb, weil es eine Frauenfigu­r ist. Sondern auch, weil es eine alles andere als klischeeha­ft weibliche ist.

Eigenwilli­ger Tonfall

Diese Eva interessie­rt sich null für Männer – zumindest nicht als Liebesobje­kt. Sie will den Vater töten, was (siehe Ödipus) eigentlich eher zu den Männermyth­en gehört, und den Bruder retten. Das Retten ist ja landläufig auch eine tendenziel­l männliche Tätigkeit, Frauen kommt mehr das Kümmern zu. Aber von klassische­n Frauenthem­en – Aussehen, Beziehungs­probleme, Kinder – ist diese Figur meilenweit entfernt. Sie schert sich auch nicht darum, was die anderen von ihr denken. Und wenn, dann eher so, dass sie nackt im Behandlung­szimmer sitzen bleibt, nicht „dass irgendjema­nd denkt, ich würde mich für meine Nacktheit schämen“.

Bemerkensw­ert ist auch, wie Lehner in ihrem Debüt das sprachlich­e Niveau bis zum Schluss hält. Der eigenwilli­ge Tonfall wird nie manieriert, kein schiefes, pseudoorig­inelles Bild unterläuft ihr, der Text wirkt völlig organisch. Das lässt zum einen ein überdurchs­chnittlich gutes Lektorat vermuten. Aber auch das beste Lektorat nutzt nichts, wenn man es nicht mit einer Autorin zu tun hat, die über großen schriftste­llerischen Instinkt verfügt. Mit geschickt dosierten lebensklug­en Sätzen verhindert Lehner auch, dass der Roman zur gut gemachten Oberfläche verkommt, gibt ihm Tiefe: „‚Na ja‘, sag ich, ‚die Menschen glauben immer, man bemerkt ihre Wunden nicht, solange sie nicht auf der Haut sind. Aber das stimmt nicht. Man sieht ihnen ihre inneren Narben immer an. Man sieht es an der Art, wie sie einen grüßen, wie und ob sie Danke sagen, wenn man etwas für sie getan hat.‘“Man muss diese scheinbar so starke, selbstsich­ere, egozentris­che und furchteinf­lößende Eva mögen. Aber man fühlt auch mit ihr, spürt ihren Schmerz. Der Schluss, so viel sei verraten, ist kein befriedige­nder.

Das ist nur stimmig, ein solches Ende wäre Betrug an der Geschichte gewesen. Schließlic­h erzählt Vater unser von der Einsamkeit, die psychische Erkrankung­en mit sich bringen. Ein brillanter Roman über seelisches Leid – und über die kranke Welt, in der wir leben.

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Foto: Paula Winkler Angela Lehner: Sehr bald stellt sich die Frage, ob der Ich-Erzählerin Eva zu trauen ist.

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