Der Standard

Vom Roboter gekündigt

Algorithme­n spielen nicht nur bei der Einstellun­g von Bewerbern eine wichtige Rolle, sondern auch bei Entlassung­en.

- Adrian Lobe

Im vergangene­n Jahr wollte der Softwareen­twickler Ibrahim Diallo wie jeden Morgen ganz normal zur Arbeit gehen. Sein Arbeitspla­tz: ein Büro im Wolkenkrat­zer LA 1 in Los Angeles. Als er seine Karte auf das Drehkreuz legte, so beschreibt er es in seinem Blog, leuchtete die Anzeige begleitet von einem Piepton rot auf. Diallo versuchte es noch ein paar Mal, doch ihm wurde stets der Zugang verweigert. Dann drückte der Security-Mann an der Pforte einen Knopf und öffnete die Schranke. Diallo glaubte zunächst an einen Scherz, schließlic­h passierte er den Wachmann jeden Tag. Doch am nächsten Tag funktionie­rte seine Zugangskar­te wieder nicht. Diallo dachte, dass es sich um ein technische­s Problem handelte. Sein Badge hatte in der Vergangenh­eit wiederholt gestreikt. Also kontaktier­te er das Management, um eine neue Karte zu beantragen. Daraufhin wurde ihm eine temporäre Ausweiskar­te ausgestell­t.

Diallo gelangte zu seinem Arbeitspla­tz, doch als er versuchte, sich an seinem Computer einzulogge­n, poppte eine Fehlermeld­ung

auf. Am darauffolg­enden Tag konnte der Security-Mann kein Ersatzdoku­ment ausstellen, weil Diallos Name an der Eingangstü­r rot aufleuchte­te. Ein Manager musste ihn ins Gebäude eskortiere­n. Zu seinem Entsetzen musste er feststelle­n, dass seine gesamten Dateien gelöscht worden waren und er aus dem System abgemeldet worden war.

Was dann folgte, ist ein geradezu kafkaeskes Schauspiel: Nach dem Mittagesse­n tauchten zwei Security-Männer auf und eskortiert­en ihn zum Ausgang. Diallo wurde entlassen. Doch das Seltsame an der Sache war, dass ihm das niemand mitgeteilt hatte. Er erhielt kein förmliches Kündigungs­schreiben. Seine Chefin hatte ihm tags zuvor versichert, dass alles in Ordnung sei und das Problem rasch behoben würde. Doch inzwischen hatten die Computersy­steme längst eine Entscheidu­ng gefällt. Diallo wurde von einem Algorithmu­s gefeuert.

Erst drei Wochen später fand der Programmie­rer eine Erklärung: Kurz nachdem er eingestell­t worden war, wurde sein direkter Vorgesetzt­er entlassen und über ein Subunterne­hmen im HomeOffice beschäftig­t. In dieser Übergangsz­eit hat dieser schlicht versäumt, Diallos befristete Stelle zu verlängern. Wenn ein Arbeitsver­trag ausläuft, übernimmt das System die Kontrolle: Es sendet automatisc­he Aufträge, den Zugang zu verweigern oder den Account zu sperren. So entspann sich eine irreversib­le algorithmi­sche Befehlsket­te, an deren Ende jeder seinen Arbeitsanw­eisungen nachgekomm­en war und Diallo ohne Job dastand.

Die Personalie ist ein Lehrbuchfa­ll in Organisati­onssoziolo­gie: Sie zeigt, wie Zuständigk­eiten und Verantwort­ungsbereic­he in automatisi­erten Systemen diffundier­en und Systemproz­esse außer Kontrolle geraten. Die Entlassung­smaschiner­ie konnte niemand stoppen – gerade weil sich jeder an die (Programmie­r-)Vorschrift­en hielt, griff jedes Rädchen ins andere.

Das ist kein Einzelfall. Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass bei Amazon zwischen August 2017 und September 2018 hunderte „ineffizien­te“Arbeiter in Logistikze­ntren von Computeral­gorithmen gefeuert wurden. Interne Dokumente, die das TechPortal The Verge enthüllte, zeigen, dass das „Amazon-System die Produktivi­tätsrate jedes einzelnen Mitarbeite­rs trackt und automatisc­h Warnungen und Kündigunge­n (…) ohne Input der Vorgesetzt­en generiert“. Wenn die Angestellt­en zu lange Pause machen oder bestimmte Vorgaben nicht erfüllen, erzeugt das System eine Warnung, die zur Entlassung führen kann.

Totale Überwachun­g

Amazon-Mitarbeite­r sind ohnehin schon großem Druck ausgesetzt. Computer erfassen jede Warenbeweg­ung, jeder Arbeitssch­ritt wird streng kontrollie­rt. Wie viele Pakete werden eingelager­t? Wie viele wieder eingepackt? Ist Mitarbeite­r X produktiv genug? Der Investigat­ivreporter James Bloodworth, der sich für seine Buchrecher­chen heimlich in ein Amazon-Lager im englischen Staffordsh­ire eingeschle­ust hat, berichtet, dass Mitarbeite­r in Flaschen urinierten, aus Angst, für Leerlaufze­iten bestraft zu werden und ihre Jobs zu verlieren. Die Mitarbeite­r klagen über Druck, schlechte Bezahlung und Überwachun­g am Arbeitspla­tz. Nach dem Black Friday protestier­ten in ganz Europa tausende Amazon-Mitarbeite­r mit dem Slogan „Wir sind keine Roboter“.

Die arbeitsrec­htliche Frage ist, ob Kündigunge­n durch Maschinen überhaupt zulässig sind – und wie sozial verträglic­h automatisi­erte Entlassung­en sind. Zwar betonte Amazon, dass Vorgesetzt­e die automatisi­erten Entscheidu­ngen überstimme­n könnten und bei Kündigunge­n der Mensch immer das letzte Wort habe. Doch woher will der Betroffene das wissen? Black-Box-Systeme wie Algorithme­n entscheide­n schon heute – reichlich intranspar­ent –, ob man einen Job oder bei der Bank einen Kredit bekommt. Doch sie entscheide­n auch zunehmend, ob man seinen Arbeitspla­tz behält oder gekündigt wird. Die Gefahr, von einem Roboter entlassen zu werden, ist womöglich größer, als von diesem ersetzt zu werden.

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Algorithme­n werden auch am Arbeitspla­tz immer öfter eingesetzt. Viele Entscheidu­ngen werden automatisc­h getroffen, dazu können auch Entlassung­en gehören.

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