Der Standard

Zahl der Asylwerber in der EU steigt heuer wieder deutlich

Die Kontrovers­e um die Fluchtbewe­gung vor vier Jahren vertiefte den politische­n Rechtsruck. Welche Folgen hatte das für die Schutzsuch­enden? Was hat sich im Asylsystem seitdem verändert, in Österreich und darüber hinaus? Der hier startende Asyl-Report ber

- Irene Brickner

– Die Zahl der Asylwerber in der EU steigt laut Medienberi­chten nach mehrjährig­em Rückgang seit Jahresbegi­nn wieder deutlich. Von Jänner bis einschließ­lich April stellten rund 206.500 Menschen erstmals einen Asylantrag in der Europäisch­en Union, 15 Prozent mehr als im Vorjahresz­eitraum, meldet die deutsche Funke-Mediengrup­pe.

Seit Jahresbegi­nn reisten insbesonde­re immer mehr Asylwerber über reguläre Wege und visafrei in die Union ein, vor allem aus Lateinamer­ika und den Westbalkan­staaten. Venezuela war demnach laut EU-Zahlen das zweithäufi­gste Herkunftsl­and von Asylwerber­n nach Syrien. (red)

Aktiv und umtriebig sei er immer schon gewesen: Masoud S.*, knapp 30 Jahre alt, flüchtete 2015 aus Afghanista­n nach Österreich. „Er knüpft leicht Kontakte und sammelt viele Referenzen“, schildert der Flüchtling­shelfer Peter M.*, ein Pensionist aus Wien.

2015 und 2016, in den Monaten gespannten Wartens auf den Asylbesche­id, lernte M. mit dem Flüchtling Deutsch. Die Antwort der Asylbehörd­e kam nach einem Dreivierte­ljahr: Antrag abgelehnt, Ausreisepf­licht. „Die Anwältin, die ihn bei der Berufung vertrat, kostete 1000 Euro. Masoud hat das Geld bei seinen Bekannten gesammelt“, sagt M.

Diesmal musste sich der Afghane fast zwei Jahre gedulden. „Er hatte durchaus Hoffnung. Die Richterin hatte, wie er sagte, menschlich auf ihn gewirkt“, erinnert sich der Helfer. Das Urteil strafte die Zuversicht Lügen: Antrag abgelehnt, Ausreisepf­licht, auch in zweiter Instanz.

Vor einer Rückkehr nach Afghanista­n hat S. immense Angst. Es gebe dort keine Existenzgr­undlage für ihn, sagte er. Auch fürchtet er eine Zwangsrekr­utierung durch die Taliban. Für eine außerorden­tliche Revision der Asylablehn­ung wiederum, eine Maßnahme mit wenig Aussicht auf Erfolg, verlangte die Anwältin 1800 Euro: „So viel konnte er nicht aufbringen“, sagt M.

So zog S. seine Konsequenz­en. Eines Tages im vergangene­n Herbst, schildert der Helfer, habe er seinen Schützling nicht mehr erreichen können. Keine Spur von ihm in der Flüchtling­sunterkunf­t, keine Nachricht, nichts. So, als habe er sich in Luft aufgelöst.

Ohne gültige Reisepapie­re

In Wirklichke­it hatte sich der junge Mann in einen Zug gesetzt und war 1000 Kilometer weit gefahren – ohne gültige Reisepapie­re, aber problemlos über zwei Staatsgren­zen, bis nach Paris –, hatte dort auf der Straße einen Franzosen kennengele­rnt, der ihn bei sich aufnahm, und hatte in Frankreich einen weiteren Asylantrag gestellt. „Irgendwann hat er sich wieder bei mir gemeldet. Da lebte er bereits in einem Asylquarti­er in der Pariser Banlieue – und lernte Französisc­h“, sagt M.

Mit seiner Weiterfluc­ht ist S. nicht allein. Immer mehr Afghanen, aber auch Flüchtling­e anderer Staatsange­hörigkeit – meist alleinsteh­ende junge Männer –, machen sich aus Österreich in Richtung Frankreich oder Portugal auf. Dort leben sie im Untergrund, in illegalen Zeltstädte­n, oder arbeiten schwarz. Oder aber sie stellen, wie Masoud S., einen weiteren Antrag auf internatio­nalen Schutz.

In Österreich tauchen viele nach rechtskräf­tig negativen Asylentsch­eidungen unter, andere schon früher, aus Furcht davor. Die vom ehemaligen Innenminis­ter Herbert Kickl (FPÖ) als Härteoffen­sive propagiert­en Abschiebun­gen und Fälle freiwillig­er Rückkehr, in die Ausreisepf­lichtige meist mangels einer für sie besseren Lösung einwillige­n, verbreiten in der afghanisch­en Community Panik.

Tatsächlic­h wurden laut Innenminis­terium von Jänner bis inklusive März 2019 72 afghanisch­e Staatsbürg­er nach Kabul abgeschobe­n, 91 gingen freiwillig, 15 wurden im Rahmen einer Dublin-III-Rückschieb­ung in ein anderes EU-Land gebracht.

Dublin III regelt, dass ein Flüchtling in der EU nur einmal um Asyl ersuchen kann. Wird er in einem anderen Unionsland aufgegriff­en, schickt man ihn in den Erstantrag­sstaat zurück. Auch Frankreich und Portugal tun das. Im Unterschie­d zu Österreich, Deutschlan­d und Schweden führen sie aber keine Abschiebun­gen nach Afghanista­n durch. Sie schätzen die dortige Lage als zu gefährlich ein.

Daher blieben Afghanen, die in anderen EU-Ländern vor einer Abschiebun­g nach Kabul standen, in Frankreich und Portugal bis vor kurzem von Dublin-Rücktransp­orten verschont. Aus Österreich nutzten in den vergangene­n Jahren mehrere hundert Personen diese Chance. Das sagen Schätzunge­n von Unterstütz­ern, denn statistisc­he Aufzeichnu­ngen dazu gibt es im Innenminis­terium nicht. Insgesamt sollen derzeit Tausende durch Europa weitergefl­ohene Afghanen und Afghaninne­n in Frankreich und Portugal leben.

Dieser stille Exodus verweist auf ein EU-weit bestehende­s Problem. Es betrifft nicht nur Afghanen, sondern zum Beispiel auch Tschetsche­nen, die ihr Erstflucht­land Polen zu Tausenden verließen und nach Westeuropa weiterreis­ten; viele von ihnen wurden wieder zurückgesc­hoben: Was tun mit Schutzsuch­enden, die abtauchen und die für einen Verbleib bereit sind, fast jedes Risiko auf sich zu nehmen?

Neue Kompromiss­losigkeit

Die sich aktuell abzeichnen­de Antwort läuft auf eine verstärkte Kompromiss­losigkeit hinaus. „Zuletzt wurden Afghanen laut Dublin III auch aus Frankreich und Portugal nach Österreich zurückgesc­hickt. Zum Teil wurden sie in den Flieger hineingezw­ungen“, berichtet eine Flüchtling­shelferin* aus Niederöste­rreich. Sie betreut einen knapp 18-Jährigen nach seiner Rückkehr aus Paris in der Schubhaft in Wien.

Psychisch schwer angeschlag­en sei dieser, schildert sie. Die mehrfache Entwurzelu­ng – Flucht aus Afghanista­n, Abtauchen aus Österreich, Zwangsrück­kehr aus Frankreich – habe ihn in tiefe Resignatio­n gestürzt. „Er isst nicht mehr, er schläft nicht mehr, er sagt, ihm sei alles egal.“In Österreich habe der Bursch seinen Pflichtsch­ulabschlus­s gemacht, auf Deutsch, sich später in Paris ums Französisc­hlernen bemüht. Alles umsonst: „In meinen Augen ist das ein Martyrium“, sagt die Frau.

Auch die Lage von Peter M.s Schützling Masoud S. spitzte sich zuletzt zu. Im April beschied ihm eine französisc­he Asylrichte­rin, dass er laut Dublin III problemlos nach Österreich zurückkehr­en könne. Hier stünden ihm noch Rechtsmitt­el gegen die drohende Afghanista­n-Abschiebun­g offen. Dass diese Mittel den Abtranspor­t nur in wenigen Einzelfäll­en stoppen, ließ sie unbeachtet.

Gegen diesen Beschluss hat S. in Paris Berufung eingelegt. Diese hemmt die Rückschieb­ung nach Wien nicht. Täglich, so M., rechne der Afghane mit dem Auftauchen der Polizei in seiner Unterkunft. Der Französisc­hunterrich­t sei ihm gestrichen worden, detto ein Großteil seines Taschengel­ds. „Ich bin nach Europa gekommen, um zu überleben. Ist das ein Verbrechen?“, fragt er in einer E-Mail. *Namen der Redaktion bekannt

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Bleibechan­cen in Frankreich? Viele Schutzsuch­ende flüchten innerhalb der EU weiter.

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