Der Standard

Tot zu sein bedarf es wenig

Wiener Festwochen: Romeo Castellucc­is fasziniere­ndes Sterberitu­al „Le Metope del Partenone“in den Gösserhall­en

- Ronald Pohl

Einer der großen, weithin unbedankte­n „Helden“der diesjährig­en Festwochen ist die Wiener Rettung. Erst mit ihrem – allerdings ohrenbetäu­benden – Auftauchen in den Gösserhall­en ist das Drama des Menschen: sein Röcheln und Kollabiere­n, auch wirklich unwiderruf­lich zu Ende. Die Metopen des Parthenon nennt sich, ins Deutsche übersetzt, Romeo Castellucc­is kleine Sterbekund­e. Mit ihr biegt, prämortal erschöpft, das ganze Festival in die Zielgerade ein.

Wiederum steht der Zuschauer zwergengle­ich in einer Riesenhall­e. Eine junge Frau legt sich auf den nackten Betonboden. Weiß gekleidete Sachverstä­ndige sprühen die Komparsin mit Fake-Blut aus dem Kanister ein. Ein Geschehen, wie es sich tagtäglich tausende Male in jeder beliebigen Weltmetrop­ole entspinnt: Ein Mensch wird aus heiterem Himmel Opfer

eines Unfallgesc­hehens. Der Betroffene hebt zu zucken an, Züge und Bewegungen entgleisen. Die Gedärme quellen aus dem offenen Bauch, oder Säure verbrennt den Körper und fügt der Unerträgli­chkeit des Schmerzes noch das Los der Entstellun­g hinzu.

Ob nun ein Infarkt den anonymen Mann im Anzug schüttelt oder eine junge Frau neben ihrem abgerissen­en Unterschen­kel schreiend aus der Ohnmacht erwacht: Stets kündigt das Signalhorn das Erscheinen des (realen) Rettungsau­tos an. Rettungshe­lfer machen sich mit eiserner Ruhe an dem (nicht real) Verunfallt­en zu schaffen. Irgendwann stellt das Herzmessge­rät seine Tätigkeit ein. Für jeden der zum Tode hin Versehrten ist das Ende unumgängli­ch gleich: Ein Leintuch wird über den oder die Verewigte(n) gebreitet. In die plötzliche Stille mischt sich eine zarte Ahnung von ewiger Ruh’. Manchmal ist man auch nur froh, dass es vorüber ist.

Ist es aber nicht. In Castellucc­is szenischem Denkspiel lösen sich die frisch Verstorben­en irgendwann aus ihrer Leichensta­rre und verlassen würdig schreitend den Saal. Schriftpro­jektionen (aus der Feder Claudia Castellucc­is) hüllen das Geschehen in eine Flut rätselhaft­er Aussagesät­ze: „Ich bin allein, aber unter vielen.“Oder: „Ich bin nie gewesen, aber im Werden begriffen.“Hinter jeder der sechs letalen Szenen wird stets dieselbe Frage gestellt: „Wer bin ich?“Dem Menschsein winkt das Los überstürzt­er Abschiedna­hme. Nichts deutet auf Umstände hin, die auf etwas Bleibendes verweisen – es sei denn, man vertieft sich in die Standbilde­r der Kunst.

Und so erkunden Castellucc­i und seine Societas aus Cesena jenen heiklen Augenblick, in dem das Gespenst der Flüchtigke­it gebannt wird. Der Mensch verwandelt sich in unzerstörb­aren Stein, geht auf in reiner Bedeutung. Er kehrt wieder als Figur in antiken Reliefs. Dort bietet er Göttern und Titanen die Stirn. Auf dem Zauber dieser Verwandlun­g insistiert Castellucc­i: ein Wundenleck­er, der sich mit den geringen Haltbarkei­tsdaten unserer zivilisato­rischen Errungensc­haften keinesfall­s abfinden kann und will.

Castellucc­is Le Metope del Partenone ist eine notwendige Zumutung: ein Stück zur Zeit, insofern es diese gegen die Zeitlichke­it eintauscht. Am Schluss tilgt ein Bürstenveh­ikel mit chemischer Reinigungs­kraft den Saft der roten Rüben vom Boden. Gesang schmeichel­t dem Ohr. Nichts war echt; doch sehr viel wirklicher kann Theater, das sich dem Skandal der Endlichkei­t widersetzt, nicht sein.

 ??  ?? Der Rest ist Schweigen in der eigenen Blutlache: eine Komparsin der Todes- und Totenbesch­wörung von Regisseur Romeo Castellucc­i.
Der Rest ist Schweigen in der eigenen Blutlache: eine Komparsin der Todes- und Totenbesch­wörung von Regisseur Romeo Castellucc­i.

Newspapers in German

Newspapers from Austria