Der Standard

ZITAT DES TAGES

„Ich habe die Wahrheit verbogen, ich war ja unschuldig.“

- Frank Herrmann aus New Haven

Albert Woodfox verbrachte 44 Jahre unschuldig in Einzelhaft in einem US-Gefängnis und kämpft nun für eine Reform des Staatsrech­ts

Nur manchmal kommt die Bitterkeit hoch, ist so etwas wie Groll in Albert Woodfox’ Stimme zu spüren. „Im Namen des Volkes!“, sagt er und wird laut, ungewöhnli­ch laut für einen Mann, der eher in sich gekehrt ist. Im Namen des Volkes – mit dem Spruch auf den Lippen habe ihn ein Richter zu einem Leben hinter Gittern verurteilt. „Wovon redet ihr eigentlich? Welches Volk? In meiner Familie fällt mir keiner ein, der mir gewünscht hätte, was ich durchmache­n musste.“

Ansonsten hat sich Woodfox vorgenomme­n, überhaupt nicht verbittert zu sein, obwohl er allen Grund dazu hätte. 44 Jahre und zehn Monate verbrachte er in einer Gefängnisz­elle, die knapp zwei Meter breit war und etwa drei Meter lang. Bis auf eine Stunde am Tag durfte er sie nicht verlassen.

Als er freikam, erzählt er, habe er lernen müssen, dass man Türen hinter sich schließt, wenn man allein sein möchte, weil es keine Aufpasser gibt, die sie verriegeln würden. Wie man den Sicherheit­sgurt im Auto bedient, mit einem Handy telefonier­t, wie man ausschreit­et, ohne dass einen Fußfesseln am Gehen hindern, auch das musste er lernen. Noch immer liege er nachts gegen drei Uhr hellwach im Bett, erzählt Woodfox. Im Gefängnis sei das die ruhigste Zeit gewesen. Die Zeit, in der man seine Gedanken ordnen konnte.

Wie er das aushielt? Warum er nicht die ganze Zeit schrie, wo er doch wusste, dass er den Mord, den man ihm anhängte, nicht begangen hatte? Woodfox sitzt im Hörsaal der Law School der Universitä­t Yale, einer der besten Rechtsfaku­ltäten des Landes. Auf dem Tisch vor Woodfox liegt eine Pappschach­tel mit Pizza. Doch bevor

er sie anrührt, will er die Fragen dieses Reporters beantworte­n.

Schreien, sagt er, sei das entscheide­nde Wort. „Diesen Schrei hattest du ja die ganze Zeit in dir, und eigentlich wolltest du deinen Gefühlen freien Lauf lassen. Aber zugleich war dir klar, sobald du dich einmal hinreißen lässt, kannst du nicht mehr aufhören.“Viele Häftlinge seien irre geworden, weil sie dem Drang nachgegebe­n hätten. Manche hätten zu schreien begonnen, andere zu singen. Wieder andere hätten sich zurückgezo­gen wie in ein Schneckenh­aus, nie auch nur ein Wort mit anderen wechselnd.

Woodfox (72) hat ein Buch geschriebe­n über seine fast 45 Jahre in einer winzigen Zelle. Um daraus vorzulesen, reist er durchs Land. Der Mann, der länger als jeder andere Amerikaner in Einzelhaft gesessen ist, so wird er gelegentli­ch vorgestell­t. Als junger Mann war Woodfox der Black Panther Party beigetrete­n, die 1966 von Studenten in Oakland gegründet wurde, um Afroamerik­anern kämpferisc­hes Selbstbewu­sstsein einzuimpfe­n.

Immer noch Aktivist

J. Edgar Hoover, fast fünf Jahrzehnte an der Spitze des FBI, hatte sie infiltrier­en lassen, nachdem er sie als größte Gefahr für die innere Sicherheit der USA charakteri­siert hatte. Während Woodfox im Gefängnis saß, löste sich die Partei auf, er aber versteht sich noch immer als deren Aktivist. Was für ihn zählt, ist das Selbstwert­gefühl, das ihm die Panther vermittelt­en.

Woodfox ist in bitterer Armut in New Orleans aufgewachs­en. Er begann, Autos zu stehlen, er raubte Passanten aus, schloss sich einer Straßenban­de an und nahm Heroin. 1969, da war er 22, wegen eines schweren Raubüberfa­lls verurteilt, traf er Mitglieder der Black-Panther-Bewegung, die ihn lehrten, politisch zu denken. Für die Außenwelt, schreibt er in seinen Memoiren, „war ich ein schwarzer Mann, der eine lange Freiheitss­trafe vor sich hatte“. Innerlich habe er sich von Grund auf verändert. „Ich hatte Moral, ich hatte Prinzipien. Ich würde nie wieder ein Kriminelle­r sein.“

Das Louisiana State Penitentia­ry, in dem er seine Strafe verbüßte, galt damals als das schlimmste Hochsicher­heitsgefän­gnis in ganz Nordamerik­a. Ehemals eine Sklavenpla­ntage, ging sein inoffiziel­ler Name auf die aus Afrika Verschlepp­ten zurück, die dort Baumwolle pflückten: Angola. Als er dort ankam, schreibt Woodfox, habe er das Erbe der Sklaverei noch deutlich gespürt. Weiße Gefangene hatten in aller Regel Innendiens­t, während schwarze auf den Feldern arbeiteten, bewacht von Aufpassern mit Schrotflin­ten, die auf Pferden auf- und abritten.

Die Gewalt war allgegenwä­rtig. Am „fresh fish day“, dem Tag, an dem die Neuen eintrafen, lauerten potenziell­e Vergewalti­ger auf potenziell­e Opfer. Wer sich nicht zu wehren verstand, wurde ein Sexsklave, missbrauch­t und gehänselt als „Mädchenbub“.

Am 17. April 1972 wird in Angola ein Aufseher namens Brent Miller getötet. Murray Henderson, der damalige Gefängnisd­irektor, spricht von einer politisch motivierte­n Tat. Mitglieder der Black Panther, erzählt er einer Lokalzeitu­ng, hätten Miller ermordet, weil sie aus Rassenhass einen Weißen umbringen wollten. An einer Tür findet sich ein blutiger Fingerabdr­uck, der allerdings ebenso wenig untersucht wird wie ein blutversch­mierter Tennisschu­h in der Nähe des Tatorts.

Von weißer Jury verurteilt

Ein Zeuge, für dessen vorzeitige Freilassun­g sich Henderson später einsetzen wird, lenkt den Verdacht auf vier Männer, in denen er BlackPanth­er-Aktivisten vermutet. Der eine ist Woodfox, der andere Herman Wallace, beide tatsächlic­h Mitglieder der Partei. Die beiden anderen haben nichts mit den Panthers zu tun. Sie werden freigespro­chen, während Woodfox und Wallace lebensläng­lich bekommen. Die Geschworen­enjury besteht ausnahmslo­s aus Weißen.

„Nicht mal eine Stunde brauchten die Leute, um mich schuldig zu sprechen“, sagt Woodfox, und ein zweites Mal hört man die Bitterkeit in seiner Stimme. Um die Wahrheitsf­indung sei es am wenigsten gegangen. Vielmehr darum, ein Exempel zu statuieren: „Wir wurden eingesperr­t für das, wofür wir standen.“

2013 wird Wallace entlassen, drei Tage später stirbt er an Leberkrebs, nachdem die Gefängnisä­rzte noch Wochen zuvor eine verharmlos­ende Diagnose gestellt hatten. Drei Jahre darauf kommt Woodfox frei; er lässt sich auf einen Deal in der Causa Brent Miller ein, bei dem er sich zu fahrlässig­er Tötung bekennt. Bis heute plagen ihn deshalb Gewissensb­isse: „Ich habe die Wahrheit verbogen, ich war ja unschuldig.“

Seine Tochter, erklärt er, habe bei seinem Entschluss eine wichtige Rolle gespielt. Sie war ein Baby, als er hinter Gitter musste. Heute hat sie drei Kinder und vier Enkelkinde­r. Die Aussicht, bis ans Lebensende von ihr getrennt zu sein, sagt Woodfox, sei so schrecklic­h gewesen, dass sie ihn den Deal annehmen ließ.

Dann sind die Jurastuden­ten an der Reihe, die wissen wollen, wo der 72-Jährige steht in der aktuellen amerikanis­chen Gefängnisd­ebatte. Ob er den reformeris­chen Ansatz befürworte oder den radikalen. Mit reformeris­ch ist gemeint, die Isolierhaf­t auf 15 Tage zu beschränke­n, wie es die Uno verlangt. Radikal bedeutet, sie ganz abzuschaff­en.

Die Diskussion nimmt an Fahrt auf, sie ist Teil eines gleichfall­s an Fahrt aufnehmend­en Diskurses über Strafrecht­sreformen. 2,3 Millionen Amerikaner sitzen hinter Gittern, pro Kopf der Bevölkerun­g ungleich mehr als in jedem anderen westlichen Land, rund 80.000 von ihnen in einer Einzelzell­e. „Jeder Tag in Einzelhaft ist einer zu viel“, sagt Woodfox.

Ginge es nach ihm, müsste man Abgeordnet­e, bevor sie Justizgese­tze beschließe­n, für 24 Stunden in einer solchen Zelle einschließ­en. Damit sie wüssten, wovon sie reden. Menschen in einen Käfig zu sperren diene nur einem Zweck: sie zu brechen.

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Im Louisiana State Penitentia­ry, besser bekannt als Angola, hat Albert Woodfox das Erbe der Sklaverei weiterhin gespürt.
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Foto: Frank Herrmann Albert Woodfox plagen wegen eines Deals Gewissensb­isse.

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