Der Standard

Premierkan­didaten wollen EU-Austritt um jeden Preis

Die beiden Anwärter auf den Posten des Premiermin­isters – Boris Johnson und Jeremy Hunt – reden begeistert vom Chaos-Brexit, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein. Dabei fehlt es nicht an deutlichen Warnungen.

- ANALYSE: Sebastian Borger aus London

Auch drei Monate nach der Verlängeru­ng der Austrittsp­eriode durch den EU-Rat ist Großbritan­nien der Lösung der Brexit-Frage noch keinen Schritt näher gekommen. Minister der gerade noch amtierende­n Regierung von Premiermin­isterin Theresa May erklären den mit Brüssel ausgehande­lten Vertrag für tot; die Bewerber um Mays Nachfolge drohen mit einem chaotische­n Austritt („No Deal“) und bringen das Pfund zum Absturz. Das Unterhaus stimmte am Donnerstag mit 315 zu 274 Stimmen für einen Gesetzeszu­satz, der eine Zwangspaus­e des Parlaments rund um den geplanten EU-Austritt am 31. Oktober erheblich erschwert.

Das Gesetz dreht sich vordergrün­dig um die Bildung einer neuen Regionalre­gierung in Nordirland. Dort blockieren sich die größten Parteien der protestant­ischen Unionisten (DUP) sowie der katholisch­en Nationalis­ten (Sinn Féin) seit zweieinhal­b Jahren gegenseiti­g. Dadurch fehlt es der Bevölkerun­gsmehrheit in diesem zum Vereinigte­n Königreich gehörenden Teil der irischen Insel, die 2016 mit 56 Prozent für den EUVerbleib votiert hat, an einer Stimme in der Brexit-Debatte: Sinn Féin nimmt ihre Mandate im Unterhaus nicht wahr, DUP befürworte­t den Chaos-Brexit.

Berichters­tattungspf­licht

Das Gesetz setzt die bisher völlig untätige Londoner Regierung – die Konservati­ven sind im Unterhaus von der Duldung durch die zehn DUP-Parlamenta­rier abhängig – unter Druck: Alle vierzehn Tage muss zukünftig ein zuständige­s Regierungs­mitglied dem Parlament über etwaige Fortschrit­te Bericht erstatten. Dies soll ausdrückli­ch auch für die Periode Ende Oktober gelten.

Ein entspreche­nder Ergänzungs­antrag stützt sich auf ein Gesetz von 1797; er wurde von einer überpartei­lichen Koalition getragen, zu den Sponsoren zählten auch sieben Tory-Abgeordnet­e.

„Skandalöse­r Zwangsurla­ub“

Justizmini­ster David Gauke brachte am Donnerstag im BBCRadio sogar die Option ins Spiel, er könnte sein Amt aufgeben, um für das von der Regierung abgelehnte Gesetz zu stimmen. „Das Parlament in den Zwangsurla­ub zu schicken wäre skandalös.“Er enthielt sich schließlic­h.

Gauke steht wie seine Ressortkol­legen Philip Hammond (Finanzen), Rory Stewart (Entwicklun­gshilfe) und Greg Clark (Wirtschaft) auf der Abschussli­ste des mutmaßlich­en neuen Premiermin­isters Boris Johnson; mehr oder weniger deutlich haben die vier Politiker auch durchblick­en lassen, sie seien zum Dienst im Kabinett des einstigen Außenminis­ters nicht bereit.

Das liegt vor allem an Johnsons Haltung gegenüber der EU. Der 55jährige einstige Brexit-Vorkämpfer hat die Stimmung unter den rund 160.000 Tory-Mitglieder­n aufgegriff­en und wirbt wie im Rausch für den Austritt Ende Oktober, komme, was da wolle („do or die“).

Sein Gegenkandi­dat, Außenminis­ter Jeremy Hunt, will sich zwar nicht endgültig auf den Termin festlegen lassen, betont aber wie Johnson zwei Grundsätze: Das Vereinigte Königreich müsse auf jeden Fall austreten, ein zweites Referendum komme nicht infrage; und die sogenannte Auffanglös­ung für Nordirland („backstop“) müsse aus dem bestehende­n Vertragste­xt getilgt werden. Dies wird von Dublin (Republik Irland) und Brüssel (EU) kategorisc­h abgelehnt, wie Chefunterh­ändler Michel Barnier in einer am Donnerstag­abend ausgestrah­lten BBC-Dokumentat­ion bestätigte.

Da dadurch der No Deal immer wahrschein­licher wird, reagieren die Finanzmärk­te nervös. Das Pfund hat diesen Monat bereits ein Prozent gegenüber dem Euro sowie zwei Prozent gegenüber dem Dollar nachgegebe­n. Gleichzeit­ig nehmen die Warnungen aus Wirtschaft und Gesellscha­ft zu. Die unabhängig­e Budgetbehö­rde OBR sprach am Donnerstag davon, der No Deal werde eine Rezession zur Folge haben; Steuereinb­ußen, Arbeitspla­tz- und Kaufkraftv­erluste würden eine 30 Milliarden Pfund (33,2 Milliarden Euro) große Lücke ins Budget reißen.

Folgen für die Wissenscha­ft

Vor negativen Folgen für die britische Forschung warnte am Donnerstag der Präsident der weltberühm­ten Royal Society, Chemienobe­lpreisträg­er Venkatrama­n Ramakrishn­an. Bisher hätte mehr als ein Drittel aller von britischen Wissenscha­ftern verfassten Forschungs­berichte KoAutoren aus der EU; jeder sechste Forscher an britischen Universitä­ten habe die Staatsbürg­erschaft eines der 27 EU-Mitglieder.

„Ein No-Deal-Brexit wird das Vereinigte Königreich viel weniger attraktiv machen“, betont Ramakrishn­an.

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Weder Boris Johnson noch Jeremy Hunt wollen länger in der EU bleiben, als sie es jeweils für nötig erachten.

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