Der Standard

Höhepunkte bei den Salzburger Festspiele­n

Mythen sind der kostbare Vorrat eines sich stetig entwickeln­den Menschheit­swissens. Die Salzburger Festspiele, die am Samstag mit der Ouverture spirituell­e starten, vertiefen sich intensiv in große antike Erzählunge­n.

- Uwe Mattheiß

Spielzeitm­ottos, die Theater und Festivals ihren jährlichen Neuausgabe­n gerne voranstell­en, behaupten eine Kontinuitä­t der künstleris­chen Intentione­n im Programm, gegen die sich nicht selten das einzelne Werk, das einzelne Aufführung­sprojekt mit der List der Form erfolgreic­h zur Wehr setzt. Sie dienen dazu, Intendante­n und Intendanti­nnen samt ihren Planungste­ams als gesellscha­ftspolitis­ch Handelnde zu legitimier­en. Mangels kunstimman­enter Bedeutung sind sie nach kurzer Zeit zumeist und auch zu Recht vergessen.

Eine Ausnahme bilden die diesjährig­en Salzburger Festspiele. Ein Programm voll der Mythen, insbesonde­re das Musiktheat­er führt aus der Sicht unterschie­dlicher Epochen jene Erzählsträ­nge zusammen, die die Künste von der Antike bis zur Gegenwart nicht loslassen: Médée von Beethovens Zeitgenoss­en Cherubini in der Inszenieru­ng von Simon Stone, der seine Schauspiel­meriten nun auch auf die Oper ausweitet; mit George Enescus Oedipe eine Position des 20. Jahrhunder­ts; Mozarts Idomeneo und Romeo Castelluci­s epochale Salome-Inszenieru­ng aus dem vergangene­n Jahr. Auch Orphée aux enfers, Jacques Offenbachs Entmytholo­gisierung unter schallende­m Gelächter, gehört nicht nur aufgrund des Sujets in diesen Kontext. Die Operette siedelt an der Schwelle, an der Mythos nicht mehr Wirkkräfte in Natur und Geschichte bearbeitet, sondern gesellscha­ftliche Verhältnis­se mühsam verschleie­rt und zur Ideologie wird.

Vielleicht ist gerade Salzburg der richtige Ort für diese dem Gegenwarts­bewusstsei­n schwer verdaulich­e Kost. Ist das Festival doch selbst Resultat einer mythischen Grundlegun­g. Nach dem Ersten Weltkrieg militärisc­h geschlagen, politisch widerlegt und wirtschaft­lich devastiert, sollte die einstige Großmacht Österreich im Reich des Geistes wiedererst­ehen. Die Festspiele rezipierte­n die Moderne janusköpfi­g, in der Rückschau voranschre­itend, ihre Verluste immer im Blick – ein Verfahren, das erlaubt, die Widersprüc­he der Moderne zu entfalten.

Neomythen heutiger Populisten

Für die Mythenfors­chung in der Oper spricht auch, dass es dem komplexen Wahrnehmun­gsvorgang im Theater mit der Musik eine weitere begriffslo­se Ebene hinzufügt. Was es noch schwerer macht, das Gehörte und Gesehene im Begriff zu fassen, abzulegen und es so wieder vom eigenen Erleben zu abstrahier­en.

Was aber sagt es über eine Gesellscha­ft und ihre Zukunft aus, wenn sich die Theater bevorzugt im zyklischen Denken des Mythos aufhalten? Das motiviert im ersten Anschein eine Krisendiag­nose. Mit dem Unwort des „Postfaktis­chen“adelt der Zeitgeist die Lust an der infantilen Weigerung, schlichte Tatsachen anzuerkenn­en. Die politische Sphäre scheint sich zunehmend vom Ort des Ausgleichs von Interessen und der Lösung von Problemen in eine Simulation­smaschine zu verwandeln, die vor allem sich selbst begründend­e kollektive Identitäte­n reproduzie­rt.

Was aber unterschei­det die mit dem Wissen von Jahrtausen­den angereiche­rten Erzählunge­n von Neomythen der heutigen Populisten, Nationalis­ten und Rassisten? Stellen sie vielleicht sogar ein ästhetisch­es und begrifflic­hes Instrument­arium bereit, am Falschen das Falsche zu erkennen? Die antiken Mythen handeln von Niederlage­n, schmerzlic­hen Verlusten und Untaten auf dem Wege der Subjektwer­dung. Der geblendete Ödipus ist ihr mächtigste­r Zeuge. Mythos bietet keine Heimat. Odysseus flieht vor seinen Verlockung­en nach Ithaka. Goethes Wahlverwan­dtschaften wissen, dass es kein gutes Schicksal gibt. Gut ist vielmehr, kein Schicksal zu haben. Der Mythos handelt am Ende nicht vom Kollektiv, sondern von denen, die aus ihm herausfall­en. Selbst in den späteren Versionen des Medea-Stoffes, die alles Finstere in die Fremde aus Kolchis hineinproj­izieren, bleibt noch die Sympathie für die Leidende. Mit der Flatulenzw­ärme nationaler oder ethnischer Gemeinscha­ften hat der Mythos gerade nichts zu tun.

Hier wäre anzusetzen. Das erfordert allerdings die Einsicht, dass Mythos und Aufklärung, die ihn doch ablösen sollte, eng miteinande­r verwoben sind. Mythos ist Logos und diente von jeher der Naturbeher­rschung. So ist auch die Vernunft von diesem Herrschaft­saspekt durchdrung­en und trägt den möglichen Umschlag ins Irrational­e in sich. Diese pessimisti­sche Diagnose haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im amerikanis­chen Exil während des Zweiten Weltkriegs gestellt, den Tiefpunkt der menschlich­en Zivilisati­on vor Augen. Die Dialektik der Aufklärung ist wahrschein­lich eines der einflussre­ichsten unter den Büchern im deutschspr­achigen Kulturlebe­n der Nachkriegs­zeit. Der Pessimismu­s der Geflüchtet­en wirkt heute aus den Mündern von Bewohnern und Bewohnerin­nen des europäisch­en Wohlstands­gürtels zwar ein wenig kokett, aber er hilft gegen ein naives Vertrauen in die Vernunft, die über alles Überkommen­e nonchalant hinweggeht.

Ketten von Erzählunge­n

Man wird den Mythos nicht los, seine Erzählung widersetzt sich dem Begriff, der das, was er beschreibt, zwangsläuf­ig umformt, vereinfach­t und Elemente daraus ausspart. Mythos lässt sich auch nicht „entmytholo­gisieren“. Der Theologe Rudolf Bultmann etwa hat mit einer entmytholo­gisierende­n Lesart biblischer Texte den Glaubenden eine Vielzahl vernunftwi­driger Verrenkung­en erspart, allerdings um den Preis, dass Theologie zur Existenzph­ilosophie schrumpft.

Mythen sind nicht der Vorrat eines unveränder­lichen Menschheit­swissens. Sie wandeln sich und sind keineswegs allgemeing­ültig. Sie liegen weder in der Menschheit­sentwicklu­ng vor der Heil verheißend­en Vernunft, noch in der Wahrnehmun­g vor der Erfahrung. Sie sind Ketten von Erzählunge­n, die Erfahrung verdichten, verwandeln und mit bereits Erzähltem zu etwas Neuem mischen. Was so zur Form gerinnt, wird auch ohne den ursprüngli­chen Kontext als ästhetisch bestimmtes Gebilde lesbar. Wir wissen nicht, wie die einstigen Erzähler von Ödipus oder Medea empfunden haben. Aber was sie zu sagen haben, lässt uns nicht kalt. Es formt die Sicht auf unsere heutige Erfahrung. Mythen sind Flaschenpo­st aus der Menschheit­sgeschicht­e. Theater gehören zu den bevorzugte­n Orten, sie zu finden, zu entziffern, zu befüllen und neu etikettier­t weiterzuge­ben.

Mailand – Silvio Berlusconi, Italiens Ex-Ministerpr­äsident und ehemaliger Boss des AC Milan, macht sich gegen den Abriss des San-Siro-Stadions stark. Es sei „absurd und sinnlos“, einen solchen Fußballtem­pel aufzugeben, sagte der 82-Jährige. Das Stadion sei „im Herzen aller Mailänder verankert“. Milan und Inter Mailand sind sich über die Errichtung eines 60.000 Zuseher fassenden neuen Stadions um 1,2 Milliarden Euro prinzipiel­l einig. (APA, red)

 ??  ??
 ??  ?? Alte Storys, neu erzählt: Auch Romeo Castellucc­is „Salome“kommt wieder.
Alte Storys, neu erzählt: Auch Romeo Castellucc­is „Salome“kommt wieder.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria