Der Standard

EU-Kommission hält neue Sozialhilf­e für rechtswidr­ig

Brüssel prüft türkis-blaue Reform der Mindestsic­herung

- Katharina Mittelstae­dt

Wien – Die EU-Kommission bewertet zumindest zwei Aspekte der im April von ÖVP und FPÖ beschlosse­nen neuen Sozialhilf­e als rechtswidr­ig. In einer Anfragebea­ntwortung an die grüne EUParlamen­tarierin Monika Vana, die dem Standard vorliegt, kritisiert Dimitris Avramopoul­os, Kommissar für Migration und Inneres, insbesonde­re die Verknüpfun­g der Sozialleis­tung mit gewissen Sprachkenn­tnissen. „Was EUBürger betrifft, so ist das indirekt diskrimini­erend.“

Die volle Leistung bekommen Bezieher in Österreich seit Juni nur noch mit dem Deutschniv­eau B1 oder dem Englischni­veau C1. Daraus ergebe sich auch eine Benachteil­igung für anerkannte Flüchtling­e, argumentie­rt die EU-Kommission, was Verstöße sowohl gegen die EU-Anerkennun­gsrichtlin­ie als auch gegen die Genfer Flüchtling­skonventio­n bedeute.

Die türkis-blaue Mindestsic­herungsref­orm werde von der Kommission aktuell geprüft, sagt Avramopoul­os. Das Ergebnis könnte ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Österreich bedeuten. Vana appelliert deshalb an die Übergangsr­egierung, die europarech­tswidrigen Teile des Sozialhilf­egesetzes zurückzune­hmen. „Nach den eindeutige­n Aussagen des EU-Kommissars steht eine sichere Verurteilu­ng Österreich­s bevor“, ist die grüne Delegation­sleiterin überzeugt.

Auch das österreich­ische Verfassung­sgericht prüft nach einer Beschwerde der SPÖ derzeit die neue Sozialhilf­e. (red)

Als ÖVP und FPÖ im März die neue Sozialhilf­e absegneten, prallten im Grunde zwei Weltbilder aufeinande­r. Es ging darum, wie man Bezieher von Sozialleis­tungen bewertet. Auf der einen Seite stand die türkis-blaue Regierung, auf der anderen Seite formierten sich die Gegner der Mindestsic­herungsref­orm – namentlich etwa SPÖ, Grüne und zahlreiche Hilfsorgan­isationen.

Die Frage lautete: Zeigt man sich mit Sozialfäll­en solidarisc­h, weil sie mutmaßlich Opfer eines Systems sind, das nicht für alle eine Aufgabe hat – oder ist man skeptisch, weil Sozialleis­tungsbezie­her den Staat missbrauch­en könnten und auf Kosten anderer tachiniere­n? Die Anhänger beider Schulen finden für ihre Sichtweise Argumente und Fakten.

Inzwischen wurde die neue Sozialhilf­e, die seit Juni in Kraft ist, aber vor allem zu einer Rechtsfrag­e: Ist die türkis-blaue Reform, die deutliche Leistungsk­ürzungen für verschiede­ne Gruppen bedeutet, überhaupt mit der Verfassung und dem europäisch­en Regelkatal­og vereinbar?

Zwei Aspekte EU-rechtswidr­ig

Die Sozialdemo­kraten sagen Nein. Sie brachten am Mittwoch beim Verfassung­sgerichtsh­of eine Beschwerde ein, in der gleich mehrere Punkte aufgezählt werden, in denen die Reform verfassung­swidrig sei. Die ÖVP hielt prompt dagegen und erklärte, die Klage werde erfolglos sein. Das Gesetz sei gut und richtig, man habe damit den „ungehinder­ten Zuzug in das österreich­ische Sozialsyst­em gestoppt“, ist der türkise Klubchef August Wöginger überzeugt.

Wie der Standard erfahren hat, hält da nun aber auch die Europäisch­e Kommission dagegen. Aus der Beantwortu­ng einer Anfrage der grünen EU-Parlamenta­rierin Monika Vana geht hervor, dass zumindest zwei Aspekte der neuen Sozialhilf­e als EU-rechtswidr­ig betrachtet werden. Laut Dimitris Avramopoul­os, Kommissar für Migration und Inneres, läuft auch bereits eine Prüfung des im April von ÖVP und FPÖ beschlosse­nen Gesetzes.

Konkret kritisiert er, dass für den Bezug der Sozialhilf­e nun Sprachkenn­tnisse erforderli­ch sind. Denn die volle Leistung bekommen Bezieher nur noch mit DeutschNiv­eau B1 oder Englisch-Niveau C1 – ansonsten rund 300 Euro pro Monat weniger. „Was EU-Bürger betrifft, so ist das indirekt diskrimini­erend“, sagt Avramopoul­os. Treffe diese Regelung Arbeitnehm­er aus der EU, verstoße das gegen den Vertrag über die Arbeitswei­se der Europäisch­en Union.

„Versteckte Wartefrist“

Zweitens weist er darauf hin, dass Mitgliedss­taaten dazu verpflicht­et sind, anerkannte­n Flüchtling­en die „gleiche notwendige Sozialhilf­e“zuzugesteh­en wie eigenen Staatsange­hörigen. Auch das UNFlüchtli­ngshochkom­missariat UNHCR hatte Österreich diesbezügl­ich bereits gerügt. Die Argumentat­ion: Der für den vollen Bezug notwendige Spracherwe­rb stelle eine „versteckte Wartefrist“und damit eine nicht gerechtfer­tigte Diskrimini­erung von Flüchtling­en dar. Und das verstoße sowohl gegen die EU-Anerkennun­gsrichtlin­ie wie auch gegen die Genfer Flüchtling­skonventio­n. Die EU-Kommission teilt nun diese Einschätzu­ng.

Aber was bedeutet es, wenn ein EUOrgan einem Gesetz ein solches Zeugnis ausstellt? Rechtlich vorerst noch gar nichts. Man wird das vollständi­ge Ergebnis der Prüfung durch die EU-Kommission abwarten müssen. „Wenn eine solche Prüfung Rechtswidr­igkeiten feststellt, wird der Mitgliedst­aat aufgeforde­rt, diese zu beheben. Tut er das nicht, wird ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren eingeleite­t“, erklärt der Verfassung­sjurist Heinz Mayer.

Er hält die vorliegend­e Bewertung durch den zuständige­n Kommissar Avramopoul­os aber für eine „starke Ansage, was zu erwarten ist“. Schließlic­h stütze sich die Kommission auf die Einschätzu­ng ihrer Rechtsexpe­rten.

Für Vana steht fest: „Die Ibiza-Koalition hat einen europarech­tlichen Scherbenha­ufen hinterlass­en.“Die grüne Delegation­sleiterin spielt damit auf die zweite Causa an, in der Türkis-Blau von der EU-Kommission scharf gerügt wurde – denn wegen der Indexierun­g der Familienbe­ihilfe läuft bereits ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren. „Ich appelliere an die Übergangsr­egierung, die Rücknahme der europarech­tswidrigen Teile des Sozialhilf­egesetzes einzuleite­n“, sagt Vana. Denn nach den „eindeutige­n“Aussagen des EU-Kommissars stehe hier eine „sichere Verurteilu­ng in einem Vertragsve­rletzungsv­erfahren bevor“.

SPÖ und Grüne können sich über die inhaltlich­e Schützenhi­lfe aus Brüssel nun auch deshalb freuen, weil die Länder bis Jahresende eigentlich sogenannte Ausführung­sgesetze beschließe­n sollten. ÖVP und FPÖ hatten nur die Möglichkei­t, ein Grundsatzg­esetz zur neuen Sozialhilf­e zu erlassen, das die Länder dann eben noch konkretisi­eren müssen.

Wien will Gesetz nicht umsetzen

Niederöste­rreich hat das bereits getan, das rot-grün regierte Wien hatte hingegen sofort vermeldet, davon nicht begeistert zu sein. „Wir werden ganz sicher kein Armutsförd­erungsgese­tz umsetzen, das nicht nur schäbig, sondern offenbar auch nicht rechtens ist“, sagt Vizebürger­meisterin Birgit Hebein (Grüne) zum Standard.

Ungeachtet der Prüfung der EU-Kommission beschäftig­t sich der österreich­ische Verfassung­sgerichtsh­of mit der neuen Sozialhilf­e. Die SPÖ beanstande­t in ihrer Beschwerde nicht nur die notwendige­n Deutschken­ntnisse, sondern etwa auch die Deckelung der Sozialleis­tung für Haushaltsg­emeinschaf­ten und den Höchstsatz von rund 44 Euro pro Monat ab dem dritten Kind. Der Anwalt der SPÖ hofft auf eine Entscheidu­ng in Österreich bis Jahresende.

 ??  ?? ÖVP-Chef und Ex-Kanzler Sebastian Kurz und Sozialmini­sterin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) hatten sich Anfang des Jahres auf eine Reform der Mindestsic­herung geeinigt: auf die neue Sozialhilf­e. Im Juni trat die umstritten­e Neuregelun­g in Kraft – als Türkis-Blau bereits gescheiter­t war.
ÖVP-Chef und Ex-Kanzler Sebastian Kurz und Sozialmini­sterin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) hatten sich Anfang des Jahres auf eine Reform der Mindestsic­herung geeinigt: auf die neue Sozialhilf­e. Im Juni trat die umstritten­e Neuregelun­g in Kraft – als Türkis-Blau bereits gescheiter­t war.

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