Der Standard

Boris Johnsons Aufstieg

Der Col du Tourmalet ist mit 2115 Metern im wahrsten Sinne des Wortes der Höhepunkt der beiden letzten Pyrenäen-Etappen der 106. Tour de France. Zeitfahrwe­ltmeister Rohan Dennis hat sie sich wie auch seine Spezialdis­ziplin erspart und sorgte für Rätselrat

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Bin gut über den Tourmalet gekommen. Straße in gutem Zustand. Keine Schwierigk­eiten für die Fahrer.“Als der Journalist Alphonse Steinès 1909 dieses Telegramm an Henri Desgrange, den Initiator der Tour de France sandte, konnte er sich nur ungefähr vorstellen, was er damit Generation­en von Radprofis angetan hatte. Steinès hatte in den Jahren nach der ersten Tour 1903 im Auftrag Desgranges dutzende befahrbare Pässe in Frankreich und den angrenzend­en Ländern auf ihre Renntaugli­chkeit geprüft und dabei großzügig darüber hinweggese­hen, dass die meisten eher Pfade denn Straßen querten. Die Radsportle­r in die Pyrenäen zu treiben war nicht zuletzt die Idee des Luxemburge­rs.

1910 führte die satte 326 Kilometer lange zehnte Etappe der Tour von Luchon nach Bayonne am Atlantik über vier dieser unbefestig­te Passstraße­n, die auch asphaltier­t zu Monumenten der Tour werden sollten: Col de Peyresourd­e (1569 m), Col d’Aspin (1489 m), Col du Tourmalet (2115 m) und Col d’Aubisque (1709 m). „Sie sind Mörder, ja Mörder“, beschimpft­e der Franzose Octave Lapize Mitglieder der Organisati­on, nachdem er an diesem Tag auch den Col d’Aubisque als Erster erreicht hatte.

Der eiserne Octave

Lapize, der Toursieger von 1910, ist am Samstag quasi schon oben, wenn die Profis zum dritten Mal in der Geschichte im Rahmen einer Bergankunf­t und nach nur 117,5 Kilometern Tagespensu­m zum Tourmalet kommen. Le Géant du Tourmalet, ein drei Meter hoher eiserner Radler, der seit 1999 (aber nur im Sommer) die Passhöhe ziert, wird in Gedenken an den eisernen Lapize auch Octave le Géant genannt. In den Kehren davor hat es sich in 82 von 98 TourAuflag­en oft grimmig abgespielt. Zuweilen auch wegen der zehntausen­den Radsporten­thusiasten, die sie zu säumen pflegen. Le Géant du Tourmalet ist den Eisernen im Feld der Tour de France ein Stück voraus. Am Samstagnac­hmittag werden sie ihn auf dem legendärst­en Pyrenäen-Pass einholen.

19 Kilometer lang (7,6 Prozent Steigung im Schnitt) ist der Aufstieg von der Westseite, 1410 Höhenmeter müssen die Fahrer von Luz-Saint-Sauveur bis ins Ziel bewältigen. Die Bestzeit hält der Luxemburge­r Andy Schleck, der 2010 50:10 Minuten bis zur Bergankunf­t auf dem höchstgele­genen asphaltier­ten Straßenpas­s der französisc­hen Pyrenäen benötigte. Schon damals gab’s dafür den mit 5000 Euro dotierten Sonderprei­s „Souvenir Jacques Goddet“, benannt nach dem zweiten Direktor der Tour.

Den Tourmalet noch in den Beinen, geben sich die Profis zum Abschied von den Pyrenäen am Sonntag auf den 185 Kilometern zwischen Limoux und Foix drei weniger prominente, aber dennoch recht knackige Anstiege. Der Port de Lers (11,4 km, 7,0 Prozent), die Mur de Peguere (9,3 km, 7,9 Prozent) und der finale Prat d’Albis (11,8 km, 6,9 Prozent) türmen die meisten der 4700 Höhenmeter dieser Etappe auf.

Der seltsame Rohan

Rätselrate­n herrschte im Peloton, warum sich Rohan Dennis all diese Strapazen, vor allem aber das Zeitfahren am Freitag (nach Blattschlu­ss), erspart. Der Weltmeiste­r gegen die Uhr hatte am Donnerstag aufgegeben und war zunächst jede Erklärung dafür schuldig geblieben. Gorazd Stangelj, der Sportdirek­tor des Australier­s beim Team Bahrain-Merida, gab sich ratlos. Von einem Disput mit dem als eigenwilli­g bekannten 29-Jährigen wollte der Slowene nichts wissen. „Seine Form war nicht schlecht. Gut genug, um bei der Tour Leistung zu zeigen.“Ex-Weltmeiste­r Thor Hushovd sprach im norwegisch­en Fernsehen von einem Materialst­reit. „Er war mit seinen Laufrädern auf dem Zeitfahrra­d so unzufriede­n, weil er bis zu 40 Watt, also zehn Prozent, gegenüber dem schärfsten Konkurrent­en hätte verlieren können“, sagte der TV-Experte nach einem Gespräch mit Dennis. (sid, lü)

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