Der Standard

Abrechnung mit der politische­n Kaste

Stärkste Kraft im neuen, am Sonntag gewählten ukrainisch­en Parlament sind die „Diener des Volkes“von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die neuen Parlamenta­rier stehen vor teils immensen Herausford­erungen.

- André Ballin

Der Wahltag in der Ukraine begann mit einer Explosion: Nahe der Ortschaft Schtschast­ja im Donbass-Gebiet fiel eine Gruppe ukrainisch­er Militärs einem Sprengstof­fanschlag zum Opfer. Zwei Soldaten kamen ums Leben, zwei weitere wurden verletzt. Dabei gilt seit Mitternach­t eigentlich eine unbegrenzt­e Waffenruhe.

In der Nacht zuvor hatten sich beide Seiten noch heftige Artillerie­gefechte geliefert, wobei es nach Angaben der Separatist­en auch zivile Opfer gab, als die ukrainisch­en Streitkräf­te Ortschafte­n in den Rebellenge­bieten unter Beschuss nahmen.

Die Eskalation der Gewalt ist eine Erinnerung daran, dass die Ukraine immer noch weit vom Normalzust­and entfernt ist. Es ist kein Zufall, dass der im März gewählte Wolodymyr Selenskyj die Befriedung der Region zu einer der wichtigste­n Aufgaben seiner Präsidents­chaft ausgerufen hat.

Im Vergleich zu seinem Vorgänger Petro Poroschenk­o rhetorisch weicher gegenüber Russland, bleibt Selenskyj freilich bei der grundsätzl­ichen Ausrichtun­g des Landes zum Westen hin.

Die vorgezogen­e Neuwahl der Rada sollte ihm eine Mehrheit im Parlament bringen, um seine politische Agenda durchzuset­zen. Tatsächlic­h konnten die „Diener des Volkes“von der Popularitä­t

Selenskyjs profitiere­n. Die mit vielen unbekannte­n Gesichtern angetreten­e Partei wurde auf Anhieb stärkste Kraft in der Rada.

Das Wahlergebn­is ist zugleich – ähnlich dem Sieg Selenskyjs bei der Präsidente­nwahl – eine Abrechnung der Bürger mit der politische­n Kaste, die vielen als korrumpier­t und unfähig gilt. Das verhältnis­mäßig gute Abschneide­n der „Opposition­ellen Plattform“um den Putin-Vertrauten Viktor Medwedtsch­uk, die zweitstärk­ste Kraft wurde, zeigt fünf Jahre nach dem Maidan auch die Enttäuschu­ng vieler Ukrainer mit dessen Ergebnis an.

Für Selenskyj wird es nun darauf ankommen, den Vertrauens­vorschuss zurückzuza­hlen. Neuer Parlaments­chef – so viel sickerte bereits durch – soll nach der Wahl Dmytro Rasumkow werden. Der 35-Jährige ist nicht nur Parteichef der „Diener des Volkes“, sondern war auch einer der Wahlkampfl­eiter. Der studierte Volkswirt und Politologe war schon damals Sprachrohr Selenskyjs, vermied es aber selbst, in politisch heiklen Fragen Position zu beziehen.

Keine Diskrimini­erung

Rasumkow, der prinzipiel­l nur Russisch spricht, hat sich für die Förderung der ukrainisch­en Sprache ausgesproc­hen, will aber keine Diskrimini­erung des Russischen. Zudem bekräftigt­e er das Festhalten seiner Partei am Minsker Abkommen. Heikel ist das Verhältnis zur Bodenrefor­m. Hier will Rasumkow trotz großer Ängste in der Bevölkerun­g vor einem Ausverkauf eine schnelle Privatisie­rung einleiten. Zugleich versprach er aber eine politische Entmachtun­g der Oligarchen.

Wie weit Rasumkow das Parteikonz­ept in der Rada umsetzen kann, hängt allerdings auch von der künftigen Regierung ab. Und derzeit wird noch heiß spekuliert, wer überhaupt der künftige Premier werden soll. Selenskyj ließ sich am Sonntag nur so viel entlocken: dass es sich dabei um einen profession­ellen Wirtschaft­swissensch­after handeln soll.

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