Abrechnung mit der politischen Kaste
Stärkste Kraft im neuen, am Sonntag gewählten ukrainischen Parlament sind die „Diener des Volkes“von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die neuen Parlamentarier stehen vor teils immensen Herausforderungen.
Der Wahltag in der Ukraine begann mit einer Explosion: Nahe der Ortschaft Schtschastja im Donbass-Gebiet fiel eine Gruppe ukrainischer Militärs einem Sprengstoffanschlag zum Opfer. Zwei Soldaten kamen ums Leben, zwei weitere wurden verletzt. Dabei gilt seit Mitternacht eigentlich eine unbegrenzte Waffenruhe.
In der Nacht zuvor hatten sich beide Seiten noch heftige Artilleriegefechte geliefert, wobei es nach Angaben der Separatisten auch zivile Opfer gab, als die ukrainischen Streitkräfte Ortschaften in den Rebellengebieten unter Beschuss nahmen.
Die Eskalation der Gewalt ist eine Erinnerung daran, dass die Ukraine immer noch weit vom Normalzustand entfernt ist. Es ist kein Zufall, dass der im März gewählte Wolodymyr Selenskyj die Befriedung der Region zu einer der wichtigsten Aufgaben seiner Präsidentschaft ausgerufen hat.
Im Vergleich zu seinem Vorgänger Petro Poroschenko rhetorisch weicher gegenüber Russland, bleibt Selenskyj freilich bei der grundsätzlichen Ausrichtung des Landes zum Westen hin.
Die vorgezogene Neuwahl der Rada sollte ihm eine Mehrheit im Parlament bringen, um seine politische Agenda durchzusetzen. Tatsächlich konnten die „Diener des Volkes“von der Popularität
Selenskyjs profitieren. Die mit vielen unbekannten Gesichtern angetretene Partei wurde auf Anhieb stärkste Kraft in der Rada.
Das Wahlergebnis ist zugleich – ähnlich dem Sieg Selenskyjs bei der Präsidentenwahl – eine Abrechnung der Bürger mit der politischen Kaste, die vielen als korrumpiert und unfähig gilt. Das verhältnismäßig gute Abschneiden der „Oppositionellen Plattform“um den Putin-Vertrauten Viktor Medwedtschuk, die zweitstärkste Kraft wurde, zeigt fünf Jahre nach dem Maidan auch die Enttäuschung vieler Ukrainer mit dessen Ergebnis an.
Für Selenskyj wird es nun darauf ankommen, den Vertrauensvorschuss zurückzuzahlen. Neuer Parlamentschef – so viel sickerte bereits durch – soll nach der Wahl Dmytro Rasumkow werden. Der 35-Jährige ist nicht nur Parteichef der „Diener des Volkes“, sondern war auch einer der Wahlkampfleiter. Der studierte Volkswirt und Politologe war schon damals Sprachrohr Selenskyjs, vermied es aber selbst, in politisch heiklen Fragen Position zu beziehen.
Keine Diskriminierung
Rasumkow, der prinzipiell nur Russisch spricht, hat sich für die Förderung der ukrainischen Sprache ausgesprochen, will aber keine Diskriminierung des Russischen. Zudem bekräftigte er das Festhalten seiner Partei am Minsker Abkommen. Heikel ist das Verhältnis zur Bodenreform. Hier will Rasumkow trotz großer Ängste in der Bevölkerung vor einem Ausverkauf eine schnelle Privatisierung einleiten. Zugleich versprach er aber eine politische Entmachtung der Oligarchen.
Wie weit Rasumkow das Parteikonzept in der Rada umsetzen kann, hängt allerdings auch von der künftigen Regierung ab. Und derzeit wird noch heiß spekuliert, wer überhaupt der künftige Premier werden soll. Selenskyj ließ sich am Sonntag nur so viel entlocken: dass es sich dabei um einen professionellen Wirtschaftswissenschafter handeln soll.