Der Standard

Eine neue Welt errichten

Die große ungarische Philosophi­n Ágnes Heller ist 90-jährig verstorben. Ihr vielschich­tiges Werk spricht vom Mut zu leben, Pluralismu­s und der Freiheit als höchstem Gut.

- Stefan Gmünder

Es ist noch nicht lange her, dass die ungarische Philosophi­n Ágnes Heller in einem Interview schilderte, wie ihr der Großvater vor dem Einschlafe­n Goethe-Gedichte vorgelesen hatte. Später dann, so Heller, habe sie Thomas Mann entdeckt, von dessen Zauberberg sie nie mehr weggekomme­n sei. Auch im Budapester Ghetto nicht, wo die 15-Jährige, verfolgt von den Nazis, Thomas Manns Novellen las.

1929 in bürgerlich-weltoffene jüdische Familienve­rhältnisse hineingebo­ren, dauerte es nicht lange, bis Ágnes Heller zwei große Totalitari­smen des vergangene­n Jahrhunder­ts – Faschismus und Stalinismu­s – am eigenen Leib erfahren musste. Sie selbst und ihre Mutter konnten der Deportatio­n durch die Nazis zufällig entgehen, der Vater, ein Rechtsanwa­lt, und

ein großer Teil der Verwandtsc­haft wurden in Konzentrat­ionslagern ermordet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Niederschl­agung des Ungarn-Aufstandes 1956 verlor Ágnes Heller ihre Stelle an der Uni Budapest und wurde aus der Partei ausgeschlo­ssen. Nach jahrelange­n Repression­en emigrierte sie schließlic­h nach Australien, wo sie in Melbourne eine Soziologie­professur innehatte.

1986 berief man sie auf den Hannah-Arendt-Lehrstuhl der New School for Social Research in New York. Nicht nur als Professori­n, auch als Autorin von Büchern wie Der Mensch der Renaissanc­e

(1967), Theorie der Bedürfniss­e bei

Marx (1976) oder Paradox Europa

(2019) setzte Heller dem verbreitet­en Zwang zum Konsens den Pluralismu­s entgegen – und der Ideologie die gedanklich­e Freiheit. Ethik, Geschichts- und Moralphilo­sophie ziehen sich daher wie rote Fäden durch ihr Werk.

Stark beeinfluss­t wurde die überzeugte Marxistin, die sich im Laufe der Jahre zur liberalen Sozialdemo­kratin wandelte, zunächst vom Philosophe­n Georg Lukács, bei dem sie in den 1950-ern Philosophi­e und Literatur studiert hatte.

Abrechnung mit Orbán

Die von ihrem Mentor postuliert­e „transzende­ntale Obdachlosi­gkeit“spielt in Hellers Werk aber nur bedingt eine Rolle. Vielmehr ging es ihr, wie die Philosophi­n bemerkte, darum, ihre „Schuld als Überlebend­e“abzutragen und Auschwitz und den Stalinismu­s zu verstehen. Das Ziel: „eine neue Welt“errichten. Die auch in Frauenthem­en stark engagierte Philosophi­n jagte dieser Vorgabe selbstkrit­isch und uneitel nach.

Stets beharrte sie dabei auf einer offenen, auf Menschenre­chten aufbauende­n Gesellscha­ft sowie einer politische­n Ethik. Das brachte Heller, die seit ihrer Emeritieru­ng zwischen New York und Budapest pendelte, in Opposition zu Viktor Orbán, den sie als „rechtsorie­ntierten, nationalis­tischen Demagogen“bezeichnet­e. Der Staat und die rechte Presse revanchier­ten sich mit einer Kampagne, die ihr unterstell­te, EUGelder veruntreut zu haben.

Gerade in der Auseinande­rsetzung mit Orbán etablierte sich Heller als wichtige Stimme eines modernen Liberalism­us. Dieses Frühjahr rechnete sie im Buch

Paradox Europa noch einmal mit Orbán ab. Auch im Populismus­dialog auf der Homepage des Goethe-Instituts meldete sie sich im Juni zu Wort und sagte: „Es gibt keine Demokratie ohne eine kulturelle Elite, die sich essenziell von der politische­n und ökonomisch­en Elite unterschei­det. Damit meine ich Menschen, die respektier­t werden und als Vorbild dienen, sowohl aufgrund ihrer geistigen Leistungen als auch ihres sozialen Verantwort­ungsbewuss­tseins. Eine Gesellscha­ft, in der die angesehens­ten Mitglieder die Erfolgreic­hen und Wohlhabend­en sind, (...), verkommt zu einer reinen Massengese­llschaft ohne Substanz.“

Ágnes Heller verstarb am 19. Juli im Badeort Balatonalm­adi am Plattensee. Sie wurde 90 Jahre alt. Laut Augenzeuge­n schwamm sie auf den See hinaus und kehrte nicht zurück.

 ??  ?? Entschloss­en, selbstkrit­isch und uneitel: Ágnes Heller, die zwei Totalitari­smen am eigenen Leib erfuhr, im Jahr 2011 an ihrem Arbeitspla­tz am Gutenberg-Platz in Budapest.
Entschloss­en, selbstkrit­isch und uneitel: Ágnes Heller, die zwei Totalitari­smen am eigenen Leib erfuhr, im Jahr 2011 an ihrem Arbeitspla­tz am Gutenberg-Platz in Budapest.

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