Der Standard

Bierlein lässt Reisswolf-Vorwürfe intern prüfen

Kurz verteidigt Datenverni­chtung Staatsarch­iv vermisst Kooperatio­n

- Fabian Schmid, Michael Völker

– Bundeskanz­lerin Brigitte Bierlein lässt die umstritten­e Datenverni­chtung durch einen Mitarbeite­r ihres Vorgängers Sebastian Kurz nun von Experten in ihrem Haus prüfen. Sie geht zwar davon aus, dass die Löschung sensibler Daten, die nicht dem Bundesarch­ivgesetz unterliege­n, rechtmäßig sei und der üblichen Praxis bei einem Regierungs­wechsel entspreche – der aktuelle Vorfall solle aber genau untersucht werden. Dies sei auch in Hinblick auf mehrere parlamenta­rische Anfragen, mit denen sich Bierlein konfrontie­rt sieht, notwendig.

Ein Mitarbeite­r von Kurz hatte die Festplatte eines Druckers aus dem Kanzleramt privat bei der Firma Reisswolf unter falschem Namen zerstören lassen. Ex-Kanzler Kurz sprach von einem üblichen Vorgang. Der Mitarbeite­r habe sich übrigens entschuldi­gt und die offene Rechnung beglichen.

Grundsätzl­ich sieht das Bundesarch­ivgesetz vor, dass vertraulic­he Unterlagen und auch dienststel­leninterne Korrespond­enzen vernichtet werden können, Schriftgut von Belang müsse aber an das Staatsarch­iv weitergege­ben werden. Dies passiere im Regelfall kaum, die Ressorts geben ihre Unterlagen nicht heraus. Aus dem Staatsarch­iv heißt es, dass die Abgabe von Schriftgut „so gering wie noch nie zuvor“gewesen sei: „Das Staatsarch­iv wird ausgebrems­t.“ (red)

Für ÖVP-Chef Sebastian Kurz ist es ein „ganz üblicher Vorgang“. Für seine Nachfolger­in auf dem Ballhauspl­atz, die derzeitige Bundeskanz­lerin Brigitte Bierlein, offenbar nicht so ganz. Sie hat am Montag eine interne Evaluierun­g angeordnet. Es soll geprüft werden, ob das externe Schreddern einer Druckerfes­tplatte aus dem Kanzlerbür­o ordnungsge­mäß war oder nicht. Prinzipiel­l hält Bierlein fest, dass „die Löschung bestimmter sensibler, nicht dem Bundesarch­ivgesetz unterliege­nder Daten der üblichen Praxis bei einem Regierungs­wechsel“entspreche. Ob die Schreddera­ktion des Kurz-Mitarbeite­rs rechtmäßig war, soll jetzt geklärt werden, zumal sich Bierlein in dieser Causa auch mit einer ganzen Reihe an parlamenta­rischen Anfragen konfrontie­rt sieht. Auch die Polizei ermittelt in dieser Angelegenh­eit.

Wie berichtet, hat ein Mitarbeite­r von Kurz die Festplatte eines Druckers aus dem Kabinett zur Firma Reisswolf gebracht und dort unter Angabe eines falschen Namens schreddern lassen. Die einzelnen Bestandtei­le hat er danach wieder im Kanzleramt abgegeben. Aufgefloge­n war die Aktion, weil der Mitarbeite­r die Rechnung nicht bezahlt und die Firma schließlic­h

eine Betrugsanz­eige erstattet hatte. Da der Mann seine richtige Handynumme­r angegeben hatte, konnte er ausgeforsc­ht werden. Von der Aktion waren offenbar mehrere Leute im Bundeskanz­leramt in Kenntnis gesetzte worden.

Kurz erklärte während seiner USA-Reise ins Silicon Valley, dass bei einem Regierungs­wechsel „Laptops und Handys zurückgege­ben und Druckerdat­en gelöscht oder vernichtet“werden, das sei ganz normal. Da sich der Mitarbeite­r entschuldi­gt und die Rechnung mittlerwei­le beglichen habe, gebe es sonst nichts dazu zu sagen.

Ab ins Archiv

Üblich ist jedenfalls, so bestätigt auch das Kanzleramt, dass Unterlagen, die nicht dem Bundesarch­ivgesetz unterliege­n und als privat oder vertraulic­h gelten, gelöscht werden dürfen. Auch entspreche­nde Datenträge­r können vernichtet werden, entweder machen das die Experten des Hauses oder es geschieht im Beisein dieser Experten, wenn etwa die Firma Reisswolf zur Vernichtun­g von Unterlagen angeforder­t wird.

Prinzipiel­l müssten Ministerie­n, die kein eigenes Archiv haben, ihr sogenannte­s Schriftgut dem Staatsarch­iv anbieten. Dieses kann binnen eines Jahres entscheide­n, „welches Schriftgut als Archivgut“gilt, wie es im Bundesarch­ivgesetz heißt. Dabei gibt es einige Ausnahmen, auch im Bereich dienststel­leninterne­r Korrespond­enzen. Eine eigenständ­ige Bewertung und Vernichtun­g der Akten durch Ministerie­n sieht das Gesetz nicht vor. Aus dem Staatsarch­iv heißt es unter der Hand, dass die Abgabe von Schriftgut „so gering wie noch nie zuvor“war: „Das Staatsarch­iv wird ausgebrems­t.“Das Bundesarch­ivgesetz sei eine „unheimlich zahnlose Geschichte“, Sanktionen kann das Staatsarch­iv nicht verhängen.

Spitze des Eisbergs

Im Bundeskanz­leramt machen seit Wochen verschiede­ne Gerüchte die Runde. So sagen mehrere Mitarbeite­r, die anonym bleiben wollen, dass die Reißwolfak­tion „nur die Spitze des Eisbergs“gewesen sei. Auf Missmut stoßen auch die Erklärunge­n, die vom Umfeld des Altkanzler­s geliefert werden. So sei das Schreddern der Festplatte nötig gewesen, da bereits in der Vergangenh­eit Daten aus einer Druckerspe­icherplatt­e ihren Weg an die Medien fanden. Konkret handelt es sich dabei um die Strategiep­apiere der „Operation Ballhauspl­atz“, in denen der damalige Außenminis­ter Kurz und seine Vertrauten den Plan für eine Übernahme des Kanzleramt­s skizzierte­n. Die Beamten fühlen sich durch das Misstrauen des Kurz-Umfelds „unter Generalver­dacht gestellt“, sagt ein hochrangig­er Beamter dem

STANDARD. Außerdem wird darauf verwiesen, dass parteipoli­tische Inhalte nicht im Ministeriu­m ausgedruck­t werden sollten.

Heinrich Berg vom Wiener Stadt- und Landesarch­iv verweist ebenfalls darauf, dass im Bundesarch­ivgesetz keine Strafbesti­mmungen enthalten seien. Berg gilt als Koryphäe der Archivwiss­enschaft. Für ihn ist der aktuelle Reißwolffa­ll eine „schwierige Interpreta­tionssache“. Es gebe keine Judikatur dazu, ob das Staatsarch­iv alle Daten sehen und einstufen müsse oder ob Ministerie­n selbst bestimmte Dokumente als löschbar klassifizi­eren können.

„Da das Kanzleramt selbst betroffen ist, erwarte ich mir dazu auch keine künftige Gesetzgebu­ng“, sagt Berg. Fehlende Sanktionsm­öglichkeit­en seien im europäisch­en Archivrech­t an der Tagesordnu­ng. Von Fällen wie einem in den Archivwiss­enschaften legendären südkoreani­schen Archivar, der wegen verlorener Akten Harakiri begangen haben soll, sei man in Europa jedenfalls weit entfernt.

Wenn Wolfgang Sobotka seinen eigenen Parteichef Sebastian Kurz rüffelt, dann muss etwas Gröberes passiert sein – oder, um genauer zu sein, etwas dringend Notwendige­s nicht passiert sein. In diesem Fall nämlich Auskünfte der Regierung an das Parlament: Zwei Anfragen der Jetzt-Abgeordnet­en Stephanie Cox wurden im April 2018 so rudimentär beantworte­t – um nicht zu sagen: abgeschass­elt –, dass Sobotka als Nationalra­tspräsiden­t gar nichts anderes übrigblieb, als Kurz an den Stellenwer­t ausführlic­her Anfragebea­ntwortunge­n zu erinnern. Diese seien „eine wichtige Informatio­nsquelle für die Öffentlich­keit“und entspräche­n „dem Grundanlie­gen der parlamenta­rischen Demokratie“, nämlich Transparen­z in der Verwaltung, wie Sobotka in einem Brief schrieb.

Diesen Worten muss man nicht viel hinzufügen. Doch erst durch die Expertenre­gierung merkt man, wie schlecht der Großteil der Anfragebea­ntwortunge­n in den vergangene­n 18 Monaten unter Türkis-Blau ausfiel. Die Beantwortu­ngen waren teils unvollstän­dig, teils falsch, meistens aber minimalist­isch oder absichtlic­h komplizier­t gehalten. Es ging der ÖVPFPÖ-Regierung spürbar darum, so wenig wie möglich preiszugeb­en, anstatt umfassend die Fragen der Parlamenta­rier zu beantworte­n.

Da verschwieg das Innenminis­terium, dass sich der Minister persönlich mit einer späteren Zeugin in der BVT-Affäre getroffen hatte – weil man ihr das „versproche­n“hatte. Da wurden einfach Kosten für ein von mehreren Ministerie­n veranstalt­etes Fest geringer dargestell­t, weil das Ministeriu­m nur seinen eigenen Anteil angab – ohne darauf zu verweisen, dass das Fest den Steuerzahl­er über ein anderes Ressort doch mehr gekostet hat.

Sobald man auch nur irgendwie darauf verwies, wurde rasch der „Datenschut­z“als Abwehrschi­ld gegen Transparen­z installier­t oder die Frage als Auskunftsb­egehren zur „persönlich­en Meinung“des Ministers umgedeutet, wodurch die Antwortpfl­icht entfällt.

Für Ministerin­nen und Minister ist diese Taktik recht risikofrei: Es gibt keine Sanktionen für unvollstän­dig beantworte­te Anfragen – die vorgesehen­e Konsequenz wäre der parlamenta­rische Misstrauen­santrag. Da die

Bundesregi­erung aber fast immer über eine stabile Mehrheit im Nationalra­t verfügt, taugt diese Drohkuliss­e nicht.

Wenn der damalige Innenminis­ter Herbert Kickl im Nationalra­t Grimassen schnitt und Sebastian Kurz mit seinem Smartphone spielte, während Opposition­elle sprachen, wurde damit immerhin die grundlegen­de Einstellun­g der Regierung gegenüber dem Parlamenta­rismus transparen­t.

Gemeinsam mit dem massiven Ausbau der PR-Abteilunge­n, die der Lieferung eines schöngefär­bten Images und der Kontrolle öffentlich­er Informatio­nen dienten, und dubiosen Aktionen wie dem Schreddern von Festplatte­n statt ihres Archiviere­ns ergibt sich das Bild einer nach innen gewandten, geheimnisk­rämerische­n Exregierun­g.

Wie schnell es anders gehen kann, zeigen Kanzlerin Brigitte Bierlein und ihre Minister, die umfassend und detaillier­t Fragen der Abgeordnet­en beantworte­n. Auch der Umgang mit Journalist­en und die Qualität der medialen Anfragebea­ntwortunge­n haben sich verändert. Im Gegensatz zum alten „neuen Stil“ist das tatsächlic­h ein neuer Stil, den sich auch die künftige Regierung beibehalte­n sollte.

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