Der Standard

Zwischen Chaos und Pragmatism­us

Boris Johnsons Brexit-Strategie ist ein hochriskan­ter Drahtseila­kt

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Die Antrittsre­de vor Downing Street 10, das erste Briefing durch Spitzenbea­mte und Militärs, die Besetzung wichtiger Kabinettsp­osten – nach seinem als sicher geltenden Sieg im Rennen um die Nachfolge von Premiermin­isterin Theresa May wird Boris Johnson am Mittwoch viele Probleme zu lösen haben. An erster Stelle steht die Frage, an der May gescheiter­t ist: Wann und auf welche Weise tritt Großbritan­nien aus der EU aus?

Der bereits zweimal verschoben­e, jetzt auf 31. Oktober terminiert­e Brexit-Termin fällt genau mit Tag 100 der Johnson-Amtszeit zusammen. Spätestens dann wird sein Erfolg oder Scheitern sichtbar werden. In den zwei Monaten seit Mays Rücktritts­erklärung hat sich Johnson als Brexiteer „um jeden Preis“positionie­rt und damit die konservati­ven Ultras entzückt. Der Termin sei nicht verhandelb­ar, „sonst üben die Wähler tödliche Vergeltung“, so Johnson.

Spiel mit „no deal“

Gleichzeit­ig aber beruhigte er seine Anhänger vom liberalkon­servativen Flügel und betonte, er wolle mit Brüssel über eine Revision des Austrittsv­ertrags verhandeln. Nur wenn die 27 EU-Mitglieder kein Entgegenko­mmen zeigen, werde man im Chaos („no deal“) die Gemeinscha­ft verlassen.

Ob solche Drohungen, gepaart mit optimistis­chen Parolen, den EU-Partnern Angst einjagen? Ja, darauf zielt Johnson ausdrückli­ch ab. Er will das Brexit-Ministeriu­m zu einem No-Deal-Ressort umwandeln: Die Beamten dort sollen ausschließ­lich Pläne schmieden, damit die Versorgung der Bevölkerun­g reibungslo­s gelingt und Unternehme­n keine allzu großen Störungen hinnehmen müssen.

Wie skeptisch Fachminist­er die Erfolgsaus­sichten beurteilen, das verdeutlic­hten am Wochenende die Rücktritts­ankündigun­gen von Philip Hammond (Finanzen) und David Gauke (Justiz).

Die neuen Gespräche mit Brüssel soll das Kabinettsb­üro übernehmen, womöglich unter Leitung des bisherigen BrexitVerh­andlers Stephen Barclay oder dessen Vorgängers Dominic Raab. Das Team von EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier steht zwar für Unterredun­gen bereit – inhaltlich aber liegt man weit auseinande­r.

Allgemein heißt es: Das Austrittsp­aket wird nicht wieder aufgeschnü­rt. Insbesonde­re gelte dies für die sogenannte Auffanglös­ung („backstop“) in Nordirland. Sie garantiert die Offenhaltu­ng der inneririsc­hen Grenze, die als Hauptfakto­r der friedliche­n Entwicklun­g in der einstigen Bürgerkrie­gsprovinz seit dem Karfreitag­sabkommen von 1998 gilt. Deshalb soll es eine Zollunion mit der EU geben, bis „alternativ­e Lösungen“für eine reibungslo­se Abwicklung von Zoll- und Grenzforma­litäten gefunden sind.

Doch ein „no deal“würde über Nacht ebenjene Grenzkontr­ollen notwendig machen, welche die Auffanglös­ung verhindern soll. Gut möglich, dass Johnsons erster Auslandsbe­such weder nach Berlin oder Paris geht, sondern nach Dublin. Im Johnson-Lager will man den Backstop an die ohnehin bevorstehe­nden Verhandlun­gen über das zukünftige Verhältnis zur EU koppeln und zeitlich begrenzen. Dies könnte der weithin ideologief­reie Politiker dann als Riesenerfo­lg verkaufen.

Stimmenfan­g im Norden

Nicht umsonst will Johnson als Premier gleich zu Beginn in den Norden reisen. Nicht nur genießt der blonde Wuschelkop­f dort höhere Zustimmung­sraten als in London; in Leeds, Newcastle und Middlesbro­ugh ballen sich auch jene Labour-Wahlkreise, wo teils große Mehrheiten für den EUAustritt stimmten und sich jetzt von ihrer zaudernden Partei im Stich gelassen fühlen. Bei der EUWahl wanderten große Wählerschi­chten zur Brexit-Party ab. Der neue Tory-Chef wird dies wohl mit milliarden­teuren Verspreche­n kontern. Sebastian Borger

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