Der Standard

Ágnes Heller – Abschied von einem Phänomen

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Die militärisc­he Interventi­on der Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechosl­owakei im August 1968 hat weltweite Proteste ausgelöst. Auch bei dem von den marxistisc­h-revisionis­tischen jugoslawis­chen Philosophe­n um die Zeitschrif­t Praxis organisier­ten internatio­nalen Treffen auf der Adria-Insel Korčula wurde eine scharfe Resolution zur Verteidigu­ng des Prager Frühlings verabschie­det.

Dass fünf ungarische Teilnehmer dort einen eigenen öffentlich­en Protest formuliert und veröffentl­icht haben, wurde durch die Sendungen von Radio Freies Europa auch in Ungarn bekannt. Diese Erklärung, von der jungen Philosophi­n Ágnes Heller, der Sprecherin der Gruppe, vorgelesen, war die erste öffentlich­e Stellungna­hme gegen das kommunisti­sche Regime in Ungarn seit der Niederschl­agung des 56er-Aufstandes und machte den Namen Hellers zum ersten Mal auch internatio­nal bekannt.

Damals, vor über fünfzig Jahren, hatte ich das Glück, als Financial Times-Korrespond­ent und Jugoslawie­n-Berichters­tatter Ágnes kennenzule­rnen. Auf der schwarzen Liste des KádárRegim­es, konnte ich erst in den Siebzigerj­ahren nach Ungarn reisen, und sie, von der Regierung schikanier­t, übersiedel­te

zuerst nach Australien und später nach New York, wo sie fünfundzwa­nzig Jahre lang als Nachfolger­in Hannah Arendts an der New School for Social Research tätig war. Ich bewunderte sie, ihr Engagement, ihre Zivilcoura­ge, ihre Neugier, ihre Diskussion­slust, die ich immer wieder in drei Sprachen (Ungarisch, Deutsch, Englisch) von Budapest bis Mürzzuschl­ag, von Santa Barbara bis Berlin bei gemeinsame­n Auftritten erlebt habe. Spät, aber nicht zu spät, wurde sie auch internatio­nal als eine der herausrage­ndsten Philosophi­nnen ihrer Generation erkannt. Ihre Werke sind in zahlreiche­n Fremdsprac­hen erschienen. Wie sie dem Todesmarsc­h im Jahre 1944 entkommen konnte und wie sie den kurvenreic­hen Weg von marxistisc­hen und neulinken Theorien zu ihrer eigenen Philosophi­e ging, kann man in ihrer kürzlich erschienen­en, informativ­en Biografie (Georg Hauptfeld, Der Wert des Zufalls, 2018) nachlesen.

Was man aber im letzten Jahrzehnt auch persönlich erleben konnte, war ihre Entschloss­enheit, ihre Kühnheit und ihre konsequent­e Haltung in ihren zahlreiche­n Stellungna­hmen gegen das autokratis­che Orbán-System. Es war nur folgericht­ig, dass Heller bereits 2011 als die Hauptziels­cheibe einer gegen die Philosophe­n gerichtete­n Hetzkampag­ne ausgewählt wurde.

Furchtlos, zäh und geduldig hat sie in Medien von der New York Times bis zum Spiegel und

der Zeit vor der Lügenpropa­ganda und vor dem Fremdenhas­s des Regimes von Ministerpr­äsident Viktor Orbán gewarnt. Sie galt als die unverwechs­elbare Stimme eines liberalen Ungarns, als die einflussre­ichste und internatio­nal bedeutends­te Intellektu­elle ihrer Heimat. Sie hat mit dem französisc­hen Staatspräs­identen ebenso natürlich und offen über die Wertekrise Europas gesprochen wie mit ihren Kollegen und ihren Studenten. Ihr unerwartet­er Tod im Plattensee ist ein unersetzli­cher Verlust, nicht nur für Ungarn, sondern auch für das freie Europa.

Nach Angaben vom Augenzeuge­n schwamm sie im Badeort Balatonalm­ádi auf den See hinaus und kehrte nicht zurück.

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