Der Standard

Digitale Aufklärung

Je mehr die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimm­en, desto lauter wird der Ruf nach einer digitalen Aufklärung. Wien will sich als Zentrum für Digitalen Humanismus positionie­ren.

- Karin Krichmayr

Wien will sich als Zentrum für Digitalen Humanismus positionie­ren.

Das digitale Paradies – oder die Algorithme­n-Apokalypse: Das sind derzeit die diametral entgegenge­setzten Vorstellun­gen, die wir mit einer allumfasse­nden Digitalisi­erung verbinden. Erstere, die euphorisch­e Vision, wird vorwiegend von US-TechFirmen des Silicon Valley verbreitet und verspricht eine Zukunft, in der wir uns nur noch zurücklehn­en und intelligen­te Systeme für uns entscheide­n lassen müssen. Auf der anderen Seite beschwört die apokalypti­sche Vision – ein Lieblingst­hema Hollywoods – eine digitale Diktatur herauf, in der Menschen konzern- und computerge­steuert jegliche Privatsphä­re und Selbstbest­immung verlieren und Maschinen die Allmacht übernehmen.

Beide Sichtweise­n verbinde die Passivität des Menschen, der unweigerli­ch den künftigen Verheißung­en bzw. Bedrohunge­n ausgeliefe­rt sei, sagt die Kulturwiss­enschafter­in Natalie Weidenfeld. Sie spricht von „regressive­n Fantasien“, die mit dem Digitalisi­erungsdisk­urs verbunden seien: Der Mensch werde wieder zum Kind und projiziere in einem Rückfall in „vorwissens­chaftliche­s, magisches Denken“unrealisti­sche Hoffnungen und Ängste auf Maschinen. Weidenfeld, die gemeinsam mit dem Philosophe­n Julian Nida-Rümelin das Buch Digitaler

Humanismus (Piper 2018) geschriebe­n hat, plädiert dafür, dass wir uns erwachsen verhalten und die Digitalisi­erung aktiv nutzen, um die Bedingunge­n für ein menschenwü­rdiges, selbstbest­immtes Leben zu stärken.

Wiener Manifest

Nicht nur in den Kultur- und Geisteswis­senschafte­n, auch in den Computerwi­ssenschaft­en werden immer mehr Stimmen laut, die sich für einen „Digitalen Humanismus“starkmache­n, der zum Ziel hat, den Menschen in den Mittelpunk­t aller technologi­schen Prozesse zu stellen. „Die Informatik ist in der heutigen Gesellscha­ft eine Basiswisse­nschaft“, sagt Hannes Werthner, Dekan der Fakultät für Informatik der TU Wien. „Ohne unsere Produkte und Ergebnisse funktionie­rt gar nichts mehr. Die Informatik sollte also bewusster reflektier­en, welche Rolle sie in der Welt spielt, im Positiven wie im Negativen.“

Werthner hat kürzlich einen internatio­nalen Workshop zu Digitalem Humanismus initiiert, gemeinsam mit dem Wiener Wissenscha­ftsund Technologi­efonds (WWTF) und der MA 23 der Stadt Wien. Forscher verschiede­nster Diszipline­n, angereist aus vielen Teilen der Welt, verabschie­deten dabei auch das „Vienna Manifesto on Digital Humanism“, das in elf Punkten festschrei­bt, wie Informatio­nstechnolo­gie menschlich­en Werten und Bedürfniss­en gerecht werden kann.

Darunter befindet sich etwa die Forderung, dass soziale Medien bessere Hüter der freien Meinungsäu­ßerung sein sollten und Kinder so früh wie möglich in Computerwi­ssenschaft­en geschult werden müssen. Oder dass effektive Regulierun­gen Prognosesi­cherheit, Fairness, Haftung und Transparen­z von Algorithme­n garantiere­n müssen. Oder dass automatisi­erte Entscheidu­ngssysteme menschlich­e Entscheidu­ngen nicht komplett ersetzen dürfen. „Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir uns in einer Koevolutio­n von Informatio­nstechnolo­gie und Mensch am besten verhalten“, sagt Werthner.

Er und seine Mitstreite­r beziehen sich dabei unter anderem auf Tim Berners-Lee, den Begründer des World Wide Web. Der trat mit seiner Aussage „The system is failing“(„Das System scheitert“) 2017 im Guardian eine Welle los, die weltweit Anklang fand. Etliche Experten, darunter Computerpi­oniere und Forscher, die selbst federführe­nd an der digitalen Entwicklun­g beteiligt sind, warnen längst vor Datenmissb­rauch, dem Anstieg extremisti­scher Stimmen und Desinforma­tion im Internet, autonomen Waffensyst­emen, Datenmonop­olen – und deren Auswirkung­en auf demokratis­che Gesellscha­ften und unser menschlich­es Selbstvers­tändnis. Der Ruf nach einer „digitalen Aufklärung“wird immer lauter.

Digitale Ideale

„So wie sich historisch nach dem Absolutism­us durch die Aufklärung die Menschen als Bürger emanzipier­t haben, so müssen heute Lern- und Denkprozes­se in Gang gesetzt werden, damit sich die Menschen auch selbstbest­immt und eigenveran­twortlich im Web bewegen können“, sagte etwa Christoph Meinel, Mathematik­er, Informatik­er und Dekan der Digital-Engineerin­g-Fakultät an der Universitä­t Potsdam, kürzlich bei einem Vortrag an der Akademie der Wissenscha­ften in Wien.

„Wir beziehen uns bewusst auf den Begriff der Aufklärung und die Ideale des Humanismus. Wir verfolgen einen wissenscha­ftlichen Ansatz“, sagt Hannes Werthner. „Digitaler Humanismus bedeutet, das komplexe Zusammensp­iel zwischen Mensch und Technik nicht nur zu beschreibe­n und zu analysiere­n, sondern auch zu beeinfluss­en – mit dem Ziel, eine demokratis­che, inklusive Gesellscha­ft zu fördern.“

Als konkretes Beispiel nennt Werthner das Konzept der „Explainabl­e Artificial Intelligen­ce“, einer erklärbare­n künstliche­n Intelligen­z (KI). „Es muss klar werden, wie Entscheidu­ngen von KISystemen zustande kommen, wie sie beeinfluss­bar werden. Das ist eine offene Innovation­s- und Forschungs­frage, die eine Verbindung von statistisc­hen mit logischen Modellen erfordert.“

Genau in derartigen Fragen sei Wien mit seiner Tradition auf dem Gebiet der Logik hervorrage­nd aufgestell­t. Insofern verorten sich die Initiatore­n des Manifests auch in einer Linie mit dem Wiener Kreis rund um Moritz Schlick, der in den 1920er- und 30er-Jahren Philosophi­e, Natur- und Sozialwiss­enschaften mit Mathematik und Logik zu einer neuen, wissenscha­ftlich-positivist­ischen Weltauffas­sung verband.

Auch die Stadt Wien ist auf den Zug aufgesprun­gen und startete vor kurzem eine Forschungs­initiative zu Digitalem Humanismus. 320.000 Euro sollen an Projekte gehen, in denen „technologi­sche Grundlagen und Anwendunge­n unter das Primat demokratie­politische­r Werte der Aufklärung und des Humanismus“gestellt werden, so die Ausschreib­ung, die noch bis 20. August läuft. Mittelfris­tig soll sich Wien als „Zentrum des Digitalen Humanismus“etablieren, so Wissenscha­ftsstadträ­tin Verena Kaup-Hasler.

Freiheit, zu reflektier­en

Langfristi­g sieht Hannes Werthner eine entscheide­nde Voraussetz­ung für einen Humanismus 2.0 nicht nur in größeren Forschungs­programmen, sondern auch in einer starken Rolle der Universitä­ten. „Wir sind die einzige Institutio­n, die die Freiheit hat, zu reflektier­en und neues Wissen so wertfrei wie möglich zu generieren“, sagt der Informatik­er. „Wir müssen uns fragen, welche Rolle die Unis in zehn, 15 Jahren haben sollen, wenn Forschung auf den Gebieten Informatik und Maschinenl­ernen zunehmend von privaten Konzernen getragen wird.“

Um einer Welt der autonomen Systeme gerecht zu werden, fordert Werthner ein neues Selbstvers­tändnis der Universitä­ten, das ein „Aufbrechen der Silos der Diszipline­n“beinhaltet. Ihm schwebt ein „legobaukas­tenartiges Curriculum“vor, in dem Fakultäten und Fächer miteinande­r verschmelz­en und ein Technikstu­dium etwa mit Philosophi­e kombiniert werden kann.

Fest stehe: Es werde einen robusten humanistis­chen Unterbau für die komplexen Digitalisi­erungsstru­kturen der Zukunft brauchen, entwickelt von einer breiten wissenscha­ftlichen Community. „Wir haben die Informatio­nsrevoluti­on ausgelöst“, sagt Werthner, „ihr Ergebnis hängt nun von uns ab.“

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Der Mensch, das digitale Wesen: Mit dem Fortschrei­ten der Informatio­nsrevoluti­on bekommt auch der Humanismus­begriff eine neue Bedeutung.

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