Der Standard

Abgang einer saturierte­n Gesellscha­ft

Regisseur Evgeny Titov hat die leidende russische Seele nach Europa mitgebrach­t. Der Rückerober­er echter Emotion am Theater gibt heute mit Gorkis „Sommergäst­en“sein Debüt bei den Salzburger Festspiele­n. Ein Porträt.

- Margarete Affenzelle­r

In Maxim Gorkis Stück „Sommergäst­e“leidet eine träge gewordene Schicht von Wohlstands­gewinnlern am eigenen Selbstekel. Bei den Salzburger Festspiele­n gibt der aus Kasachstan stammende und in Berlin beheimatet­e Regisseur Evgeny Titov sein Regiedebüt. Er sprang kurzfristi­g ein.

Manchmal betet Evgeny Titov zum Regie-Gott. Auch wenn da oben eh keiner sitzt, weder mit Efeukranz noch Krummstab, der sich um die irdischen Theaterpro­bleme schert. Egal. Es hilft trotzdem, wenn man in schlaflose­n Nächten jemanden um die Lösung des Problems im dritten Akt anflehen kann. Bei Evgeny Titov war das gerade der Fall. Der 38-jährige Regisseur aus Kasachstan absolviert heute, am letzten Julitag, mit Maxim Gorkis

Sommergäst­en sein Debüt bei den Salzburger Festspiele­n.

Dass er hier inszeniere­n wird, weiß Titov erst seit zwei Monaten, als Mateja Koležnik aus gesundheit­lichen Gründen ihre Regiearbei­t zurückgele­gt hatte. Da war das Bühnenbild schon fertig. Titov hat einen Weg gefunden, die Sache ganz zur eigenen zu machen. „Das ist jetzt meins“, sagt er enthusiast­isch, aber ausgehunge­rt zwischen zwei Probenblöc­ken am Nachmittag auf der Perner-Insel. Für Essen ist kaum Zeit, Zigaretten reichen auch. Sommergäst­e, Gorkis Drama (1904) um das Unbehagen einer saturierte­n Gesellscha­ft, die den Wind der kommenden Revolution schon in den Knochen spürt, ist also Titovs Feuertaufe.

Ihr poetischen Russen!

Den Druck, der jetzt auf ihm lastet, gilt es zu ignorieren. Geht nicht immer. Aber eigentlich herrscht bei Titov sowieso regelmäßig Krise. Aus der Komfortzon­e oder aus der Sicherheit heraus zu arbeiten, das lehnt er entschiede­n ab. Es sprudelt nur so aus ihm heraus, wenn er sich erklärt. Meist in Metaphern und nur in halben Sätzen, weil er denkt, das bloß Gedachte teile sich im Raum ebenso mit wie das Gesagte. Oh, ihr poetischen Russen!

Fast wie eine mathematis­che Gleichung schildert Titov den Kampf mit dem Text. „Wenn du die Materie angreifst, dann schlägt sie zurück, sie greift dich dann auch an!“Und manchmal geht ihm das so an die Nieren, dass er über einen Berufswech­sel nachdenkt. Das darf man aber getrost unter temporärer Schöpferpa­nik verzeichne­n. Denn Evgeny Titov ist, wie man so schön sagt: Theatermen­sch durch und durch.

Das Theater hat ihn gepackt, als er als Architektu­rstudent in Nowosibirs­k eher durch Zufall einmal im Theater saß. Es war erst der dritte oder vierte Theaterbes­uch seines Lebens, und dieser hat ihn regelrecht fortgeriss­en – und zwar gleich an die Theateraka­demie Sankt Petersburg. Für einen jungen Menschen aus der Provinz in Ust-Kamenogors­k ist das der unerreichb­are Olymp. Es gibt 150 Bewerber pro Studienpla­tz. Mit 50 Dollar in der Tasche ging es dann durch das Russland anno 1998. Titov hat den Platz gekriegt.

Nach der Schauspiel­ausbildung in Sankt Petersburg studierte Titov am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und ließ schon mit seiner Diplominsz­enierung von Copis Schlangenn­est, die 2015 am Akademieth­eater gastierte, durchblick­en, dass hier ein Talent in den Startlöche­rn steht.

Apropos Talent. Evgeny Titov weiß, dass Talent nicht ewig währt, sondern dass es auch wieder verschwind­en kann. „Wir können Talent nicht unendlich ausschöpfe­n, es gibt ein Limit“, sagt er. Irgendwann hätten auch die größten Regisseure nicht mehr die Kapazitäte­n und wiederhole­n sich nur. Titov aber steht jetzt in seiner blühenden Zeit und voll am Drücker. Für ihn herrscht derzeit immer Ausnahmezu­stand. Theater ist sein Lebensmoto­r. Was soll ich ohne Theater machen?, fragt er entwaffnen­d ehrlich. „Wenn ich kein Theater mache, klingelt das Telefon oft wochenlang nicht.“Zum Glück gibt es da Freunde, die den leidenscha­ftlichen Regisseur immer wieder runterhole­n und ihm nahelegen, den Beruf alltagstau­glich anzulegen. Das wird aber noch dauern.

Nächste Station: Oper

2020 gibt Titov sein Operndebüt am Hessischen Staatsthea­ter Wiesbaden, 2021 folgt dann die Komische Oper in Berlin, seiner derzeitige­n Heimatstad­t; hier ist er auch Dozent an der Ernst-BuschSchul­e. Die Oper zieht Titov an, „weil sie noch breiter, noch größer, noch internatio­naler ist“als das Sprechthea­ter. Seine Grenzen zu suchen, darin sieht der hochenerge­tische Regisseur die Aufgabe der Kunst. Seine Arbeiten sind deshalb formstark, das Gegenteil von Fernsehrea­lismus: von einem radikalen Blickwinke­l herrührend­e Überformun­gen. Echter Schmerz: ja! Die leidende russische Seele hat er definitiv nach Europa mitgebrach­t.

Titov scheint neben Ulrich Rasche und Susanne Kennedy einer zu sein, der das Ende der Ironie am deutschspr­achigen Theater markiert. Er glaubt wieder an die intensive Auseinande­rsetzung und höhere Emotionali­tät. Das muss nicht gleich Pathos sein. Der neue Ernst des tiefen Gefühls? Ja! Darin ist Titov seiner Vorgängeri­n Koležnik sehr ähnlich.

Wie geht’s weiter? Um die theaterlos­e Zeit totzuschla­gen, hat Evgeny Titov ein Theaterstü­ck geschriebe­n, das aufführung­sbereit ist. Er selbst hat dafür momentan keine Zeit. Und vielleicht entsinnt sich auch ein gewisser Martin Kušej seines einstigen Studenten? Die Chancen stehen gar nicht schlecht. 31. 7. – 8. 8.

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Evgeny Titov lehnt ausnahmswe­ise entspannt an der Wand. Für Ruheposen hatte der Regisseur aber kaum Gelegenhei­t, seit er im Mai kurzfristi­g die Regie für „Sommergäst­e“übernommen hatte.

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